Zu den Medienhaus Lectures werden einmal im Jahr Gestalter*innen zu unterschiedlichen Themenschwerpunkten an die Universität der Künste Berlin eingeladen. 2021 fanden die Medienhaus Lectures als Kooperation zwischen Gestaltung und Theorie statt und wurden von Henrike Uthe und Annika Haas organisiert. Unter dem Motto „Performance? Performance. Performance!“ stellten sie den menschlichen Körper als Akteur sowie Adressat von Design in den Mittelpunkt und fragten: „Wie divers sind die Körper, die an Entwurfsprozessen beteiligt sind? Wie differenziert ist das Körperbild im Design? Welche Normen und Regeln werden daraus abgeleitet? Und wie wirken diese auf unsere Körper zurück?“ Wir veröffentlichen hier die Aufzeichnung der Lecture der Gestalterin Hannah Witte zu gendersensibler Typografie sowie eine Tagungsnotiz von Annika Haas.
Hannah Witte (sie*ihr) ist Grafikdesignerin und lebt in Leipzig. Ihre gestalterische Praxis dreht sich hauptsächlich um feministische Themen, Gender-Stereotype und non-binäre Typografie und wurde 2021 mit dem iphiGenia Gender Design Award ausgezeichnet. Ihr Buch Typohacks – Handbuch für gendersensible Sprache und Typografie erschien 2021 im form Verlag.
Tagungsnotiz von Annika Haas
Sprache befindet sich in einem permanenten Wandel. Das zeigt sich nicht nur in gendersensiblen Sprech- und Schreibweisen, sondern auch im Schriftbild. Mit Typohacks (form-Verlag 2021) hat Hannah Witte den ersten Leitfaden zur Gestaltung gendersensibler Typografie im deutschsprachigen Raum vorgelegt. Auf den oft kaum beachteten Zusammenhang von Sprache und Typografie machte sie bei den Medienhaus Lectures mit der Wortschöpfung „Ortho-Typografie” aufmerksam. Kathrin Peters hob als Moderatorin des Talks zudem hervor, dass Typografie und Sprache voller Normen seien und der Genderstern diese Normiertheit kenntlich mache. Denn da es sich dabei um ein Sonderzeichen handelt, das in den meisten Fonts anders als Buchstaben skaliert ist, sticht es im Schriftbild hervor bzw. fällt heraus. Während es zunehmend Fonts gibt, die den Genderstern gleichrangig mit Buchstaben setzen1, regt Typohacks dazu an, den Genderstern variabel und kontextuell einzusetzen: Mal bedarf es vielleicht eines Unruhe stiftenden „Gender-Trouble-Sterns“, mal ist eine barrierearme Einbettung wichtiger. Etwa, wenn es um Texte geht, die für Menschen mit Legasthenie gut lesbar sein sollen. Dabei spielen, wie die Designhistorikerin Anne Massey zeigt, ganz andere Kriterien als die normativ formulierten für ‚gute Lesbarkeit‘ eine Rolle.2
Dass sich die Frage nach ‚guter Lesbarkeit‘ nur spezifisch beantworten lässt, zeigte bei den Medienhaus Lectures 2021 auch das Werkstattgespräch zwischen dem Designstudio Liebermann Kiepe Reddemann und den Direktor*innen der Kunsthalle Osnabrück Anna Jehle und Juliane Schickedanz über die gemeinsame Arbeit an der Website für das Jahresthema „Barrierefreiheit“. Fazit: Was barrierearm ist, ist eine Frage des*der jeweiligen Betrachter*in bzw. Zuhörer*in. So unterbricht der Genderstern den Textfluss auch auf akustische Weise, wenn Screenreader Texte vorlesen. Sie interpretieren z. B. „Gestalter*in“ als: „Gestalter, Stern, in“. Unabhängig von der Typografie verhalten sich Buchstaben und das nichtlautliche Zeichen * damit auf der akustischen Ebene weiterhin disparat zueinander. Sofern keine genderneutralen Alternativen gefunden werden können, empfiehlt der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband den Genderstern dennoch, da er im Schriftbild besser als ein Doppelpunkt oder Unterstrich lesbar ist.
Rund um den Genderstern und die Fragen seiner typografischen wie technologischen Einbettung zeigt sich damit einmal mehr, dass die universalistische Rede von ‚guter Gestaltung‘ unhaltbar geworden ist. Wie auch zahlreiche queer-feministische und postkoloniale Design-Plattformen und -Publikationen zeigen, ist Design situiert und damit weder losgelöst von seinen Produzent*innen, noch von den Adressat*innen zu denken.3 Diversitätskritisches Design braucht also diverse Beteiligte und Perspektiven.
Annika Haas ist Medientheoretikerin und wurde 2022 mit einer Arbeit über Hélène Cixous an der Universität der Künste Berlin promoviert, wo sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Theorie der Gestaltung ist. Kooperationsprojekte wie die Medienhaus Lectures 2021 prägen ihre Theoriepraxis an den Schnittstellen von Theorie, Kunst und Gestaltung.
1 Siehe dazu das Gespräch mit der Schriftgestalterin Charlotte Rohde auf diesem Blog: https://criticaldiversity.udk-berlin.de/en/charlotte-rohde/. Gendersensible „Ortho-Typografie“ ist zudem regionalspezifisch, wie die genderfluiden Fonts für französischsprachige Texte von Bye Bye Binary zeigen: https://typotheque.genderfluid.space
2 Massey, Anne. “Design History and Dyslexia.” Design and Agency: Critical Perspectives on Identities, Histories, and Practices. Ed. John Potvin. Ed. Marie-Ève Marchand. London: Bloomsbury Visual Arts, 2020. 259–272. Bloomsbury Collections. Web. 31 May 2021.
3 Siehe z. B. https://futuress.org/, https://teaching-design.net, https://depatriarchisedesign.com, https://www.decolonisingdesign.com