Anstatt zu fragen, wie wir arbeiten sollten, sollten wir fragen, wie wir arbeiten müssen – so Claire Cunningham. Als Claire Cunningham erläutert, was sie damit meint, sitzt die Tänzerin, Performance-Künstlerin und Choreographin im Schneidersitz auf einem Kissen und blickt in die Runde. Ihre graue Krücke hat sie vor sich abgelegt. Was es für Cunningham bedeutet, die Bedürfnisse ihres Publikums von Anfang an konsequent mitzudenken, wird im Verlauf ihres Workshops immer deutlicher. Es ist Donnerstag, der 8. Februar 2024, Tag zwei des Symposiums Unlearning University an der UdK Berlin.
Ankommen
Der Workshop findet in Raum 61Raum 6 ist ein kleiner Raum mit Podest und besonders für Filmsichtungen geeignet. Während des Symposiums war der Raum mit Kissen und Klappmatratzen ausgestattet. im Erdgeschoss des Medienhauses statt. Der Eingang ist ebenerdig und trotz der hohen Altbau-Decke und der großen Fenster wirkt der Raum gemütlich. Dazu tragen die Sitzkissen und Matratzen auf dem Boden und der Tribüne bei, die mit vier breiten Stufen einen Großteil des Raums einnimmt. Zu Beginn ihres Workshops lädt Cunningham alle Teilnehmenden dazu ein, sich in diesem Raum einen Platz zu suchen, den sie als angenehm empfinden. Kissen werden verrückt, einige Teilnehmende machen es sich auf Matratzen auf dem Boden oder der Tribüne bequem und auch ein Rollstuhl findet Platz. Cunningham setzt sich im Schneidersitz auf die Tribüne. Sie weist darauf hin, dass es nicht nur möglich, sondern erwünscht sei, die eigenen körperlichen Bedürfnisse ernst zu nehmen, sich beispielsweise auch während des Workshops zu bewegen, umzusetzen, hinzulegen oder bei Bedarf den Raum zu verlassen, auch ohne Erklärung.
Die Teilnehmenden werden außerdem dazu eingeladen, sich aus zwei Schachteln mit Stim-Toys zu bedienen. Stim Toys, auch Fidget Toys oder Stimming Tools genannt, sind Gegenstände, die zur körperlichen Stimulation durch repetitive oder ritualisierte Bewegungen, sogenanntes Stimming, genutzt werden können.2Vgl. „Stimming. Self-Stimulating Behaviors.“ in: Psychology Today Online. URL: https://www.psychologytoday.com/intl/basics/stimming (zuletzt aufgerufen am 15.03.2024). Diese Bewegungen, das Kneten eines Balls etwa, das Langziehen einer Gummischnur oder das Drehen eines Fidget Spinners, können zur Entspannung und zur Fokussierung beitragen. Sie werden insbesondere von neurodivergenten3“Wenn die kognitiven Gehirnfunktionen eines Menschen von denjenigen abweichen, welche die Gesellschaft als innerhalb der Normliegend (also als ‚normal‘ oder ‚neurotypisch‘) definiert, … Mehr anzeigen Menschen genutzt, beispielsweise von Menschen mit ASS4Autismus-Spektrum-Störungen oder mit ADHS5Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Doch auch bei neurotypischen Menschen sind die Spielzeuge beliebt.6Stimtoys Online, URL: https://www.stimtoys.ch/pages/uber- uns (zuletzt aufgerufen am 15.03.2024). Cunningham entschuldigt sich dafür, den Workshop nicht auf Deutsch anleiten zu können. Es stehen Headsets für eine digitale Flüsterübersetzung vom Englischen ins Deutsche zur Verfügung. Im Raum befinden sich neun Teilnehmende und eine Person aus dem Awareness-Team des Symposiums. Als Ruhe eingekehrt ist, stellt sich die Workshopleiterin und Künstlerin vor.
Wer ist Claire Cunningham?
Claire Cunningham bezeichnet sich als „self-identifying disabled person“ und als „queer crip“. Ihr ist wichtig zu betonen, dass es sich dabei nicht um eine Fremdzuschreibung handelt. Anfangs beschreibt sie ihr Äußeres, damit auch Menschen mit eingeschränkter Sehfähigkeit eine Vorstellung bekommen könnten, mit wem sie es zu tun haben. Claire Cunningham bezeichnet sich als 46-jährige, etwa ein-einhalb Krücken (143cm) große weiße Frau. Die Krücken, so die Künstlerin, seien eine Erweiterung ihres Körpers; sie bezeichnet sich spaßeshalber auch als Vierbeinerin.
Cunningham ist eine international renommierte Performerin und Choreographin. Ihre Performances beruhen häufig auf dem (Fehl-)Gebrauch ihrer Krücken. Traditionelle Tanztechniken, die nicht behinderte Körper ausschließen, lehnt Claire Cunningham bewusst ab.7Vgl. Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz Berlin (HZT): Prof. Claire Cunningham, Einstein-Professorin. In: HZT Online, URL: https://www.hzt-berlin.de/zentrum/personen/claire-cunningham/ (zuletzt … Mehr anzeigen Ihre Arbeiten basieren auf einem „tiefen Interesse an der gelebten Erfahrung von Behinderung und ihren Auswirkungen nicht nur als Choreografin, sondern auch in Bezug auf gesellschaftliche Vorstellungen von Wissen, Wert, Verbindung und gegenseitiger Abhängigkeit.“8Ebd.
Seit Oktober 2023 lehrt und forscht Cunningham als Einstein-Professorin für Choreographie, Tanz und Disability Art am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz Berlin (HZT).9Vgl. Unbekannte*r Autor*in: Claire to become the Einstein Professor for Choreography, Dance and Disability Arts at the Inter-University Centre for Dance Berlin (HZT). In: Claire Cunninghams … Mehr anzeigen Das HZT wird in Kooperation mit dem Netzwerk TanzRaumBerlin von der UdK und der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch getragen. Claire Cunninghams Fokus liegt in der Forschung auf Crip-Techniken behinderter Tanzkünstler*innen, Praktiken der Fürsorge (care) und Ästhetiken von Zugang (access).10Vgl. Critical Diversity Blog, URL: https://criticaldiversity.udk-berlin.de/abstracts-und-cvs/ (zuletzt aufgerufen am 10.03.2024).
Vorstellungen von Care und Access
Zur Vorbereitung, die freiwillig war, hat Cunningham im Voraus zwei Texte zur Verfügung gestellt, auf die sie im Verlauf des Workshops immer wieder eingeht. Der erste ist ihre Abhandlung „Equations of Care & Responsibility“ (Danceolitics, 2021), der zweite das Kapitel 2.6 aus der Critical Diversity Policy der UdK (2024) zum Thema „Accessibility at/of Arts Universities“. Ursprünglich hatte Claire Cunningham geplant, den Workshop zu zweit mit der Künstlerin Angela Alves anzuleiten und die Inhalte im Dialog zu vermitteln. Doch da diese kurzfristig erkrankt ist, hält Claire Cunningham den Kurs nun alleine ab. Sie hätte gerne vermieden, einen Frontalvortrag zu halten, meint sie. Die Künstlerin schlägt daher vor, sich mit ihrem Input auf eine halbe Stunde zu beschränken, bevor die Teilnehmenden ihre persönlichen Erfahrungen nach einer Pause in interaktiven Formaten teilen können. Alle Teilnehmenden stimmen zu und Claire Cunningham erzählt. Es würde den Rahmen dieses Berichts sprengen, auf all die Punkte einzugehen, die sie anspricht. Deshalb möchte ich hier die zentralen Aussagen festhalten. Wem das nicht reicht, der*dem empfehle ich Cunninghams Aufsatz „Equations of Care & Responsibility“ in dem Sammelband Danceolitics11Cunningham, Claire: Equations of Care & Responsibility. In: Willeit, Simone und Wolińska, Kasia (Ed.): Danceolitics, Berlin 2021, S. 67–78., aus dem Claire Cunningham im Verlauf des Workshops immer wieder zitiert.
Mit dem Begriff care habe sie sich lange schwergetan, erklärt Claire Cunningham. Er provoziere zahlreiche problematische Assoziationen: „Care was a thing done to or for disabled people, rather than something that disabled people had agency or control in.“12Ebd., S. 68 In den vergangenen Jahren habe sie dennoch festgestellt, dass care ein wichtiger Teil ihrer Arbeit geworden sei. Sie habe sich mit anderen Künstler*innen und Kolleg*innen wie Luke Pell, Julia Watts Belser und Jess Curtis ausgetauscht und gemeinsam ein Konzept entwickelt, das sie „the choreography of care“ nannten.
Aus ihrer Perspektive als performative Künstlerin setzt sich Cunningham kritisch mit den Orten auseinander, an denen sie performt. Theater seien historisch betrachtet sehr ableistisch. In der Critical Diversity Policy der UdK wird Ableismus definiert als „die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, indem Menschen an bestimmten Fähigkeiten gemessen und auf ihre Beeinträchtigung reduziert werden und/oder indem ihnen Zugänge erschwert bzw. verunmöglicht werden.“13Universität der Künste Berlin: Glossar, in: Critical Diversity Policy. Konzept für Antidiskriminierung & Diversität Universität der Künste Berlin, Berlin 2023, S. 49. Eine Theaterperformance zu besuchen, führt Claire Cunningham aus, bringe je nach Behinderung zahlreiche unterschiedliche Herausforderungen mit sich, von der Anreise über die Frage nach der Zugänglichkeit am Veranstaltungsort, etwa für Rollstühle oder für nicht sehende Menschen, bis hin zu der Frage, ob es eine geeignete Toilette gibt. Hier wird ein Punkt deutlich, den die Künstlerin auch in „Equations of Care & Responsibility“ betont: Information ist Macht (information is power14Cunningham, Claire: Equations of Care & Responsibility. In: Willeit, Simone und Wolińska, Kasia (Ed.): Danceolitics, Berlin 2021, S. 74.) und je mehr Informationen, desto besser der Zugang (access).
Neben der Angst vor Bevormundung oder ablehnender Behandlung vor Ort gebe es auch Menschen, für die bestimmte Elemente der Performance ein Problem darstellen könnten, zum Beispiel, wenn der Ton ohne Vorwarnung plötzlich laut wird, oder wenn sich die Lichtverhältnisse plötzlich verändern. Auch während der Performance berührt oder angesprochen zu werden, könnte problematisch sein, ebenso, wenn die Performer*innen oder andere Zuschauer*innen erwarten, dass man sich schnell von der Stelle bewegt.15Vgl. Ebd., S. 72 f. Cunningham zählt noch viele weitere Beispiele auf, die den Performance-Besuch für Menschen mit Behinderungen erschweren können.
Häufig gingen Veranstaltungsbesuche für Menschen mit Behinderungen auch mit höheren Kosten einher als für Menschen ohne Behinderung, etwa weil zusätzlich das Ticket und die Anreise für eine Begleitperson bezahlt werden müssen oder weil die zusätzliche Recherche im Voraus und die Planung des Veranstaltungsbesuchs viel Zeit in Anspruch nehmen. Diese Arbeit (work) wolle sie honorieren und respektieren und fühle sich daher ihrem Publikum gegenüber verantwortlich. Hier kommt auch wieder der care-Begriff ins Spiel. Die care-Arbeit, die sie ihrem Publikum gegenüber leiste, gelte insbesondere, aber nicht nur für Menschen mit Behinderungen. Schließlich könne sie nicht davon ausgehen, dass der Besuch einer ihrer Performances für irgendeine Person einfach sei.16Vgl. Ebd., S. 73 f.
Daher orientiert sich Cunningham in ihrer Arbeit an den Kategorien time as care, communication as care, design as care, performance as care und the complexity of care.16 Diese Kategorien ermöglichten, ihre eigene künstlerische Arbeit zu hinterfragen. Ihr Ziel sei es, care für ihre Mitarbeiter*innen, für das Werk selbst und für das Publikum zu leisten – und zwar konsequent und von Anfang an. Darum also geht es ihr, wenn sie sagt, wir sollten uns fragen, wie wir arbeiten müssen, anstatt zu fragen, wie wir arbeiten sollten („We should ask ourselves how we must work instead of asking how we should work“). Dabei spielt Aufmerksamkeit (attention) Claire Cunningham zufolge eine zentrale Rolle. Der Akt des Wahrnehmens (noticing) der eigenen Bedürfnisse und der Bedürfnisse anderer werde zu einem Akt der Fürsorge (care), indem wir basierend auf Aufmerksamkeit und Wahrnehmung Initiative ergreifen und aktiv werden (action).17Vgl. Ebd., S. 70 Für Claire Cunningham bedeutet das unter anderem, dass sie bei der Fortbewegung im Alltag mehr auf den Boden blickt als andere und dass sie in ihren Performances daher häufig versucht, die Aufmerksamkeit des Publikums auf den Boden zu lenken.
Eine der zentralen Fragen, die sich die Künstlerin immer wieder stellt, ist außerdem, wie sie den Besucher*innen ihrer Performances das Gefühl vermitteln kann, dass es wirklich möglich ist, den Raum zu verlassen, wenn sie wollen. Dies einfach zu sagen, sei oft nicht genug. Sie versuche prinzipiell immer, möglichst alle relevanten Informationen mit dem Publikum zu teilen (information is access). Denn nur so hätten das Publikum wirklich die Wahl (choice), eine Entscheidung zu treffen: information is power. Ihre Verantwortung nehme sie sehr ernst, auch wenn die Entscheidung, Informationen vorab preiszugeben, Einfluss auf das ästhetische Erleben einer Performance haben könne.
Auch in ihrer neuen Position als Professorin am HZT steht Claire Cunningham vor der großen Frage, wie Universitäten inklusiver gestaltet werden kann.
Barrierefreiheit (in) der Kunstuniversität
Auf ihre bisherigen Erfahrungen am HZT wird sie nach ihrem Vortrag auch direkt von einer Teilnehmerin angesprochen. Mit ihrer neuen Position als Professorin gingen neue Herausforderungen einher, erwidert Claire Cunningham. Sie und ihr Team seien dabei zu lernen und herauszufinden, wie das Tanz-Studium für Menschen mit Behinderungen attraktiver werden könne. Den Bewerbungsprozess für Studierende inklusiver zu gestalten sei beispielsweise eine Stellschraube, der sie gerne mehr Aufmerksamkeit widmen würde. Sie stellte aber auch klar, dass dies eine Aufgabe der verantwortlichen Verwaltungsmitarbeiter*innen sei, für die ihr die Kapazitäten fehlten. Ihr Fokus liege auf der künstlerischen Lehre. Sie und ihr Team stellten sich deshalb die Frage, wie sie die Verbesserung der Barrierefreiheit am HZT nachhaltig unterstützen könnten. In diesem Zusammenhang spricht Claire Cunningham auch die Critical Diversity Policy der UdK an. In Kapitel 2.6 zu „Barrierefreiheit (in) der Kunstuniversität“18Vgl. Universität der Künste Berlin :Barrierefreiheit (in) der Kunstuniversität (Kapitel2.6), in: Critical Diversity Policy. Konzept für Antidiskriminierung & Diversität Universität der … Mehr anzeigen bekäme sie den Eindruck, dass die Inklusion von Menschen mit Behinderungen häufig als extrem kompliziert wahrgenommen würde. Oft müsse sie das aber gar nicht sein und kleine Veränderungen könnten schon viel bewirken. In der Policy würden viele wichtige Punkte angesprochen, von der räumlichen über die digitale Barrierefreiheit bis hin zum Nachteilsausgleich für ein barrierefreies Studium.19Vgl. Ebd., S. 44f. Ein Punkt käme ihr aber zu kurz, nämlich die Zugänglichkeit zur Lehre an Kunstuniversitäten. Mit einem höheren Anteil an der Universität angestellter Personen mit Behinderung ginge ihrer Erfahrung nach automatisch mehr Inklusion auch für Studierende einher. Das hinge sowohl mit der Sensibilisierung der Angestellten und Studierenden, als auch mit der Vorbildfunktion der Lehrenden zusammen.
„Tell me something you notice in this room.”
Nach einer Pause machen es sich die Teilnehmenden wieder im Raum bequem, zum Teil an neuen Plätzen. Ein Teilnehmer legt sich auf den Rücken. Wieder lädt die Workshopleiterin dazu ein, die Bedürfnisse des Körpers bewusst wahrzunehmen (attention and noticing): „What you need for your body, feel free to do, if you want to sleep, sleep.“ Einige Teilnehmende lachen, doch Claire Cunningham erklärt, sie freue sich sogar, wenn Besucher*innen während ihrer Performances einschliefen. Das verdeutliche, dass sie sich wohlfühlten. Doch diesmal schläft niemand ein. Stattdessen lassen sich die Teilnehmenden auf die vier Übungen ein, die die Künstlerin anleitet. Die erste Übung hat Claire Cunningham von der Choreographin und Performerin Sara Shelton Mann gelernt. Dafür setzen sich die Teilnehmenden jeweils zu zweit in Paaren zusammen. Jede Person hat eine Minute Zeit, in der sie immer wieder auf die Aufforderung „Tell me something you love“ („Erzähl mir etwas, das du liebst“) antwortet. Nach einer Minute wechseln die Partner*innen und die andere Person antwortet. Diese Übung wird mit drei unterschiedlichen Partner*innen wiederholt. Einige Paare wechseln dafür ins Deutsche. Bei dem Hinweis, bitte nicht zu versuchen, interessant zu wirken, geht ein Grinsen durch die Runde. Ich beobachte gespannt, wie diese persönliche Frage die Stimmung in der Gruppe auflockert, die Teilnehmenden haben sich erst hier und heute kennengelernt. Die zweite Übung funktioniert nach demselben Prinzip, doch diesmal lautet die Aufforderung: „Tell me something you notized today – outside or inside your body“ („Erzähl mir etwas, das du heute festgestellt hast – in deinem Körper oder außerhalb“).
Die dritte und vierte Übung beziehen sich explizit auf das Thema der Barrierefreiheit an Kunstuniversitäten. Wieder wechseln die Gruppen, so dass alle Teilnehmenden einer Person gegenübersitzen, mit der sie noch nicht gesprochen haben. Für die dritte Übung hat jede Person zwei Minuten Zeit. Die Aufgabe lautet: „Tell me something you notice in this room” („Erzähl mir etwas, das du in diesem Raum wahrnimmst“). Hier ginge es um die Frage nach design as care, präzisiert Claire Cunningham, und darum, von welchen Körpern der Raum, in dem der Workshop stattfindet, ausginge.. Alle Gruppen stellen fest, wie stark der Ort das Zusammensein beeinflusst. Zwar gibt es viele gemütliche Sitzmöglichkeiten, doch wäre mehr als ein Rollstuhl im Raum, würde es schon eng werden, das Licht lässt sich nicht ändern und die Fenstergriffe sind so hoch angebracht, dass sie nur von Menschen mit einer bestimmten Körpergröße bedient werden können. Ich muss zugeben, dass mir das als able-bodied Person ohne körperliche Einschränkungen vorher nicht aufgefallen war.
Für die letzte Übung kommt erneut Bewegung in den Raum. In Vierergruppen erzählen die Teilnehmenden aus ihrem Arbeits- und Universitätsalltag und gehen jeweils auf einen konkreten Aspekt ein, der bestimmte (körperliche) Kapazitäten voraussetzt. Wir stellen fest, dass allen Teilnehmenden zahlreiche Beispiele für fehlende Zugänglichkeit (access) im Alltag einfallen. Auch mir fallen einige Situationen ein, die mich persönlich bisher ehrlicherweise nicht gestört haben. Ich halte mich eigentlich für einen reflektierten Menschen, empfinde Barrierefreiheit als wichtig und habe „Equations of Care and Responsibility“20Cunningham, Claire: Equations of Care & Responsibility. In: Willeit, Simone und Wolińska, Kasia (Ed.): Danceolitics, Berlin 2021, S. 67-78. mit Begeisterung gelesen. Deshalb nehme ich auch an dem Workshop teil. Doch in diesem Moment wird mir bewusst, wie viel sensibler ich im Alltag sein könnte und sollte.
Gemeinsam diskutieren wir in Kleingruppen optionale Lösungsmöglichkeiten. Claire Cunningham weist darauf hin, dass es manchmal unmöglich sei, eine Lösung für das jeweilige Problem zu finden. Die Zeit fehlt, mögliche Lösungen für alle angesprochenen Probleme zu diskutieren, doch es gibt viele Ideen. Die diskutierten Fragen werden wir mitnehmen, so das Feedback, wie auch die Ideen für mehr care und access im individuellen Studien- und Berufsalltag. Ich beobachte nicht nur bei mir, sondern auch bei anderen Teilnehmenden eine Sensibilisierung. Viel zu schnell sind zwei Stunden vergangen und der Workshop findet ein Ende. Einige Teilnehmer*innen bleiben, um noch einmal kurz persönlich mit Claire Cunningham ins Gespräch zu kommen.
Und jetzt?
Immer wieder ist im Verlauf des Workshops deutlich geworden, wie ernst Claire Cunningham ihren care-Anspruch nimmt. Das Konzept der „choreography of care“ ist offensichtlich nicht nur eine Theorie, sondern die Grundlage ihres Arbeitens. Ich bin gespannt, wie sich das in Cunninghams neuem Solowerk Songs of the Wayfarer manifestieren wird, das sie im November 2024 uraufführen wird.21Vgl. HZT Online, URL: https://www.hzt-berlin.de/zentrum/personen/claire-cunningham/ (zuletzt aufgerufen am 10.03.2024). Dass die Künstlerin in ihrem Einsatz für mehr Inklusion in den Künsten keine Einzelkämpferin ist, zeigen auch andere Projekte wie beispielsweise Making A Difference. Das Langzeitprojekt hat zum Ziel, selbstbestimmte und sichtbare Communities „behinderter, Tauber und chronisch kranker Künstler*innen in der Berliner Tanzszene“ zu fördern.22Making a Difference. Projektwebseite (2024), URL: https://making-a-dilerence-berlin.de/ueber-uns/ (zuletzt aufgerufen am 12.03.2024).
An der UdK Berlin wird die im Grundgesetz23Vgl. Grundgesetz, Artikel 3, Absatz 3, Satz 2. und im Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen24Vgl. Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (BGG): Behindertengleichstellungsgesetz vom 27. April 2002 (BGBl. I S. 1467, 1468), das zuletzt durch Artikel 7 des Gesetzes vom 23. Mai … Mehr anzeigen verankerte Forderung nach mehr Inklusion aktuell noch nicht ausreichend umgesetzt, denn es „existieren noch immer Barrieren auf räumlicher, zeitlicher, sprachlicher, organisatorischer und habitueller Ebene.“25Universität der Künste Berlin: Glossar, in: Critical Diversity Policy. Konzept für Antidiskriminierung & Diversität Universität der Künste Berlin, Berlin 2023, S. 49.
Wie die UdK der Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen entgegenwirken möchte, ist in der Critical Diversity Policy festgehalten. Zentrale Anlaufstellen an der UdK Berlin sind der Beauftrage für Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen Christian Schmidts und die Vertrauensperson der Schwerbehinderten Menschen Inga Kleinecke. Ihre Kontaktdaten und weitere Informationen sind auf der Webseite zur Barrierefreiheit und der Seite zum barrierefreien Studium an der UdK Berlin zu finden.
Referenzen
1 | Raum 6 ist ein kleiner Raum mit Podest und besonders für Filmsichtungen geeignet. Während des Symposiums war der Raum mit Kissen und Klappmatratzen ausgestattet. |
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2 | Vgl. „Stimming. Self-Stimulating Behaviors.“ in: Psychology Today Online. URL: https://www.psychologytoday.com/intl/basics/stimming (zuletzt aufgerufen am 15.03.2024). |
3 | “Wenn die kognitiven Gehirnfunktionen eines Menschen von denjenigen abweichen, welche die Gesellschaft als innerhalb der Normliegend (also als ‚normal‘ oder ‚neurotypisch‘) definiert, dann wird dieser Mensch als neurodivergent bezeichnet.“– Jäggi, Claudia (01.09.2023): 07 Diversität und Eingebundenheit: 7.3 Neurodiversität. In: Schweizerische Gesundheitsstiftung RADIX Online. URL: https://www.radix.ch/de/gesunde- schulen/angebote/schoolmatters/buecher/ein-beitrag-zur-entwicklung-der-schule-mit-psychischer-gesundheit/07-diversitaet-und-eingebundenheit/73-neurodiversitaet/ (zuletzt aufgerufen am 16.03.2024). |
4 | Autismus-Spektrum-Störungen |
5 | Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung |
6 | Stimtoys Online, URL: https://www.stimtoys.ch/pages/uber- uns (zuletzt aufgerufen am 15.03.2024). |
7 | Vgl. Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz Berlin (HZT): Prof. Claire Cunningham, Einstein-Professorin. In: HZT Online, URL: https://www.hzt-berlin.de/zentrum/personen/claire-cunningham/ (zuletzt aufgerufen am 10.03.2024). |
8 | Ebd. |
9 | Vgl. Unbekannte*r Autor*in: Claire to become the Einstein Professor for Choreography, Dance and Disability Arts at the Inter-University Centre for Dance Berlin (HZT). In: Claire Cunninghams offizielle Webseite, URL: http://www.clairecunningham.co.uk/2023/06/claire-to-become-the-einstein-professor-for-choreography-dance-and- disability-arts-at-the-inter-university-centre-for-dance-berlin-hzt/ (zuletzt aufgerufen am 20.03.2024) |
10 | Vgl. Critical Diversity Blog, URL: https://criticaldiversity.udk-berlin.de/abstracts-und-cvs/ (zuletzt aufgerufen am 10.03.2024). |
11 | Cunningham, Claire: Equations of Care & Responsibility. In: Willeit, Simone und Wolińska, Kasia (Ed.): Danceolitics, Berlin 2021, S. 67–78. |
12 | Ebd., S. 68 |
13 | Universität der Künste Berlin: Glossar, in: Critical Diversity Policy. Konzept für Antidiskriminierung & Diversität Universität der Künste Berlin, Berlin 2023, S. 49. |
14 | Cunningham, Claire: Equations of Care & Responsibility. In: Willeit, Simone und Wolińska, Kasia (Ed.): Danceolitics, Berlin 2021, S. 74. |
15 | Vgl. Ebd., S. 72 f. |
16 | Vgl. Ebd., S. 73 f. |
17 | Vgl. Ebd., S. 70 |
18 | Vgl. Universität der Künste Berlin :Barrierefreiheit (in) der Kunstuniversität (Kapitel2.6), in: Critical Diversity Policy. Konzept für Antidiskriminierung & Diversität Universität der Künste Berlin, Berlin 2023, S. 43 f. |
19 | Vgl. Ebd., S. 44f. |
20 | Cunningham, Claire: Equations of Care & Responsibility. In: Willeit, Simone und Wolińska, Kasia (Ed.): Danceolitics, Berlin 2021, S. 67-78. |
21 | Vgl. HZT Online, URL: https://www.hzt-berlin.de/zentrum/personen/claire-cunningham/ (zuletzt aufgerufen am 10.03.2024). |
22 | Making a Difference. Projektwebseite (2024), URL: https://making-a-dilerence-berlin.de/ueber-uns/ (zuletzt aufgerufen am 12.03.2024). |
23 | Vgl. Grundgesetz, Artikel 3, Absatz 3, Satz 2. |
24 | Vgl. Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (BGG): Behindertengleichstellungsgesetz vom 27. April 2002 (BGBl. I S. 1467, 1468), das zuletzt durch Artikel 7 des Gesetzes vom 23. Mai 2022 (BGBl. I S. 760) geändert worden ist. |
25 | Universität der Künste Berlin: Glossar, in: Critical Diversity Policy. Konzept für Antidiskriminierung & Diversität Universität der Künste Berlin, Berlin 2023, S. 49. |