Brief der studentischen Initiative I.D.A an Philipp Hübl (1.4.21)
Inhalt
Brief von Henrike Lehnguth und Kathrin Peters an Philipp Hübl (26.3.21)
Lieber Philipp Hübl,
das Deutschlandfunk Kultur, das zum Internationalen Tag gegen Rassismus Ihren Kommentar „Ein irreführender Begriff“ gesendet hat, stellt Sie als Gastprofessor für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin vor. Wir kennen uns noch nicht, aber als Kolleginnen an der UdK Berlin, die der Kulturwissenschaft ebenfalls sehr verbunden sind, möchten wir in guter wissenschaftlicher Absicht unsererseits ein paar Kommentare zu Ihrem Beitrag abgeben. Dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass die UdK Berlin derzeit an einer Diversitätsstrategie arbeitet, um strukturellen Rassismus – das ist der von Ihnen beanstandete Begriff – abzubauen. Eine Gruppe von Studierenden hat im letzten Jahr mit beklemmender Evidenz auf institutionellen/strukturellen und Alltagsrassismus an der UdK verwiesen. Wir werden das Phänomen nicht los, in dem wir die Begriffe, es zu beschreiben, infrage stellen. Um welche Begriffe geht es also?
Sie fassen Rassismus als eine Benachteiligung aufgrund von Hautfarbe. Das sei so etwas wie die Kerndefinition von Rassismus, die in den letzten Jahren bis zur Unbrauchbarkeit ausgeweitet worden sei. Die Kulturwissenschaft, die wir kennen, hat allerdings gezeigt, dass das Konzept „Rasse“ in der Anthropologie des 19. Jahrhunderts als ein umfassendes Klassifikationssystem entstanden ist, das körperliche Merkmale vermaß, Charakter-und Wesenseigenschaften zuordnete und die so voneinander unterschiedenen „Rassen“ hierarchisierte. Bestehende koloniale Machtverhältnisse wurden mit Hilfe biologischer Eigenschaften objektiviert und legitimiert; man könnte auch sagen, die Wahrnehmung hat sich allmählich rassifiziert (Foucault, Gilman, Hall, Said). Es ist das Erbe, mit dem wir zu tun haben. In der Forschung zu Rassismus und Kolonialismus ist es daher üblich geworden, die Begriffe „Schwarz“ und „weiß“, in dieser Schreibweise, zur Bezeichnung soziokultureller Positionen zu verwenden, um einen Positivismus der Hautfarbe nicht zu wiederholen. Gerade die Geschichte des Antisemitismus und die Migrationsgeschichte der Nachkriegszeit beider deutscher Staaten fordert uns auf, Rassismus so kompliziert zu denken, wie er eben ist, sonst können die Ausgrenzungen gar nicht begriffen werden, die migrantische Deutsche und/oder Menschen of Color in Deutschland erfahren (Terkessidis).
Auch wenn wir Ihnen darin zustimmen, dass die Problematisierung rassistischen Redens und Handelns in vollem Gange ist – wozu immer auch Gegenreden, Verleugnungen und Beschwichtigungen gehören –, heißt das nicht, dass deswegen das Problem schon (fast) gelöst wäre. Zum einen muss denjenigen zugehört werden, die die Emanzipation bei hoher persönlicher Gefährdung vorantreiben – die weiße Mehrheitsgesellschaft, zu der auch wir uns zählen, tut das nämlich nicht. Zum anderen ist es gerade die Logik eines Diskurses, dass Zusammenhänge sichtbar und sagbar werden, die zuvor, vielleicht in den 1970er Jahren noch, gar nicht wahrgenommen oder schlicht hingenommen wurden. Sie schreiben: „Und so entdeckt man mehr, obwohl eigentlich weniger da ist“, aber das ist falsch. Man entdeckt mehr, weil schon immer mehr da war. Man entdeckt Strukturen, die wie Platzanweisungen wirken, ohne dass die Beteiligten einem Hautfarbenrassismus vertreten würden, den sie auch wirklich nicht teilen (dass 54% der in erwähnten Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2019, Befragten asylsuchende Menschen ablehnen, Tendenz steigend, gehört allerdings auch ins Bild).
Und nein, die Rede von strukturellem Rassismus beschuldigt nicht jede weiße Person, manifest rassistische Auffassungen zu haben oder bewusst rassistisch zu handeln, womöglich bis hin zur Gewalttätigkeit. Vielmehr macht das Denken von Strukturen, das ja in den Sozial- und Geisteswissenschaften seit Langem etabliert ist, darauf aufmerksam, dass die Rede und das Handeln von Personen auch entgegen der eigenen Intention benachteiligend und diskriminierend wirken kann. Strukturen sind schlichtweg größer und mächtiger als jede Einzelne, sie werden von der Sprache getragen, von Narrativen, Mythen und kulturellen Traditionen, von Institutionen (Bildungsinstitutionen, aber auch Familie) und schlagen sich im Alltagshandeln nieder. Wie die Handlungsspielräume jeder Einzelnen bemessen sind und wie viel Gehör ihr geschenkt wird, ist eine Frage der sozialen Situiertheit. Weiße haben in postkolonialen und postmigrantischen Gesellschaften, also in so gut wie allen, eine Position inne, die vorteilhafter ist als die anderer Personengruppen und eben auch zu deren Lasten geht. Das kann sich zum Beispiel darin zeigen, dass sie von familiären Verbindungen profitieren, die für das berufliche Fortkommen nützlich sind. Daraus resultiert ein höherer sozialer Status, der, um ein UdK-relevantes Beispiel zu nennen, den Zugang zu Kunst und Musik ebnet. Es passiert, dass Weißen im Studium Kompetenzen zugesprochen werden, die andere erst unter Beweis stellen müssen. Sie verfügen über Namen, die Deutschsprachige leicht aussprechen können, was ihnen Vorteile bei vielen Bewerbungsverfahren verschafft. Woher sie kommen, können sie mit den Namen von Bundesländern beantworten, ohne dass die ganz große Zugehörigkeitsfrage mitschwingt – wie arglos sie auch immer gestellt sein mag. Selbstverständlich können auch Weiße Benachteiligungen erfahren und diskriminiert werden – zum Beispiel weil sie eine Behinderung haben, arm sind und/oder sich als trans Person identifizieren –, aber sie werden nicht strukturell aufgrund ihres Weißseins diskriminiert.
Wenn Sie schreiben, dass behauptet würde, „alle Menschen [seien] per Definition rassistisch“ (definiert von wem, der kritischen Rassismustheorie, antirassistischer Politik, Betroffenen?), wird nicht nur implizit Menschsein mit Weißsein gleichgesetzt. Wenn man die Differenz zwischen manifest rassistischem Verhalten und rassistischen und rassifizierenden Strukturen nicht anerkennt, führt das zu genau jenen Verallgemeinerungen, die anderen unterstellt werden.
Das wirft die Frage auf, was eigentlich die Zielrichtung Ihres Beitrags ist. Geht es darum zu zeigen, dass die internationale Rassismusforschung ungeeignete Begriffe verwendet? Warum ist das hier und jetzt wichtig? Oder ist die Kritik an Critical Race Theory ein Aufhänger, um dem Strukturalismus und Poststrukturalismus, der für diese Theorien zentral ist, einmal mehr Unwissenschaftlichkeit vorzuwerfen? Oder soll mit dem Verweis auf nicht näher erläuterte empirische Studien gesagt werden, dass es mit dem Rassismus doch gar nicht so schlimm ist in Deutschland? Und wer genau kann einen solchen Standpunkt überhaupt diskutieren? Wie man es auch dreht und wendet, zum Internationalen Tag gegen Rassismus ist das ein irreführender Beitrag.
Wir würden uns freuen, Sie bei einer der kommenden Veranstaltung zur Diversitätsentwicklung der UdK Berlin kennenzulernen und die Diskussion fortzusetzen.
Henrike Lehnguth
Wissenschaftliche Mitarbeiterin und designierte Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte der UdK Berlin
Kathrin Peters
Professorin für Geschichte und Theorie der visuellen Kultur, UdK Berlin
Brief von Philipp Hübl an Henrike Lehnguth und Kathrin Peters (12.4.21)
Liebe Frau Lehnguth, liebe Frau Peters,
Sie haben mit einem offenen Brief meine Kolumne auf Deutschlandfunk Kultur „Struktureller Rassismus: Ein irreführender Begriff“ kommentiert. Daher antworte ich Ihnen ebenfalls öffentlich. Wie der Titel ja sagt, geht es in dem Artikel primär um Begriffe und erst sekundär um die empirischen Fakten. Nirgendwo bezweifle ich, dass es Rassismus gibt. Es geht darum, mit welchen wie weit gefassten Begriffen wir welche Phänomene gut erklären und so dann auch gut bekämpfen können.
In dem Wochenkommentar habe ich drei recht klar definierte, für die empirische Forschung hilfreiche Begriffe verteidigt: Erstens Rassismus als bewusste Abwertung aufgrund der Ethnie oder Hautfarbe. Da sind sich sicherlich alle einig. Zweitens Rassismus als unbewusste oder indirekt abwertende Einstellung. Als Beispiele habe ich Diskriminierung am Wohnungs- und Arbeitsmarkt genannt und für letzteres beispielhaft eine europaweite Studie verlinkt, die das nachweist. Für den Bildungssektor lassen sich vergleichbare Untersuchungen nennen. Drittens institutioneller Rassismus wie das Racial Profiling der Polizei. Man hätte auch das Redlining in den USA, also Diskriminierung bei der Kreditvergabe, nennen können, wie es etwa Daniel James auf Deutschlandfunk tut, der mit seinem Kommentar „Struktureller Rassismus: Verteidigung eines Begriffs“ auf meinen kritisch geantwortet hat.
Fast alle Beispiele, die Sie in ihrem Text anführen, scheinen unter diese drei Begriffe zu fallen, daher könnte es bei unserer Diskussion bloß um einen terminologischen Disput gehen. Aber vielleicht geht es auch um mehr. Sie schreiben, dass „die UdK Berlin derzeit an einer Diversitätsstrategie arbeitet, um strukturellen Rassismus – das ist der von Ihnen beanstandete Begriff – abzubauen.“ Wenn Sie hier mit „strukturell“ sagen wollen, dass es eine Häufung von bewusstem, unbewussten und institutionellen Rassismus gibt, dann fügt das Wort „strukturell“ den klar definierten Begriffen nichts hinzu, außer eben „es gibt zu viel davon“. Da Rassismus immer moralisch falsch ist, gibt es normativ gesehen immer zu viel davon. Daher habe ich im Text geschrieben: Jeder Fall ist einer zu viel.
Sie schreiben „wir werden das Phänomen nicht los, in dem wir die Begriffe, es zu beschreiben, infrage stellen.“ Das sehe ich anders. Wir verstehen das Phänomen erst, wenn wir genaue Begriffe haben.
Ihren Exkurs zu kolonialen Machtverhältnissen fand ich interessant, stimme auch den meisten Punkten zu, sehe aber nicht so recht, was das mit meiner Kolumne zu tun hat. Ich würde Antisemitismus und Rassismus wie in der Sozialpsychologie üblich als zwei Varianten gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auffassen. Man kann Antisemitismus auch terminologisch unter „Rassismus“ subsumieren und ihn „kompliziert denken“, wie Sie schreiben (wenn ich Sie richtig verstehe), damit würde man sich aber die Möglichkeit nehmen, die Gemeinsamkeiten zwischen dem klassischen Antisemitismus (der eine stark rassistische Komponente hat), dem israelbezogenen Antisemitismus (den man gerade im linken Lager findet) und dem muslimischen Antisemitismus verwischen.1Deutsche und europäische Studien dazu finden sie hier: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/119/1811970.pdf (S. 79 f.); … Mehr anzeigen
Sie schreiben, ich würde suggerieren, dass „das Problem schon (fast) gelöst wäre“. Das habe ich weder gesagt noch angedeutet. Allein wenn 7,2 Prozent der Menschen in Deutschland rassistische Einstellungen haben, wie ich referiere, heißt das, dass mindestens 5,5 Millionen Menschen Rassisten sind. Von einem gelösten Problem kann also überhaupt nicht die Rede sein. Rassismus nimmt ab, und Rassismus ist ein Problem. Beide Teilsätze können gleichzeitig wahr sein. Genau wie Gewalt (sogar seit Jahrhunderten) weltweit abnimmt, aber immer noch nicht verschwunden ist.2Pinker, Steven (2011) The Better Angels of our Nature. The Decline of Violence in History and Its Causes. New York: Allen Lane
Sie schreiben, meine Behauptung sei „falsch“, dass es weniger Rassismus gebe, fügen aber keine Quellen dazu an. Problematisch ist sicher, dass wir die expliziten Einstellungen erst seit 20 Jahren messen, und daher keine perfekten Datensätze vorliegen. Das zeigt, nebenbei bemerkt, übrigens indirekt, dass wir uns als Gesellschaft mehr für Rassismus und Diskriminierung sensibilisiert haben, denn vor 30 oder mehr Jahren gab es weder regelmäßige Erhebungen noch eine Antidiskriminierungsstelle des Bundes – mit anderen Worten: Der Staat hat Diskriminierung damals offenbar nicht als ernsthaftes Problem angesehen. Neben anderen hat das Aladin El-Mafaalani in seinem Buch „Das Integrationsparadox“ sehr anschaulich beschrieben.3El-Mafaalani, Aladin (2018) Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Köln: Kiepenheuer & Witsch
Dennoch deuten sehr viele Studien daraufhin, dass Gewalt und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit weltweit in den letzten Jahrzehnten abgenommen haben, wenn auch sicherlich nicht linear. Ronald Inglehart beispielsweise ermittelt mit Kolleginnen und Kollegen in seinem World Value Survey seit etwa 40 Jahren die Werte und Einstellungen der Menschen aller Weltregionen. Über 30.000 Publikationen gehen auf diese Daten zurück. Eine wichtige Erkenntnis ist: so gut wie alle Länder haben zwei progressive Bewegungen vollzogen, die bis heute andauern – von einer streng religiösen zu einer säkularen Gesellschaft und von einer kollektivistischen zu einer individualistischen. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (erkennbar an Fremdenfeindlichkeit, Chauvinismus, Abwertung von bis hin zur Todesstrafe für Homosexualität etc.) ist in religiösen und kollektivistischen Ländern im Mittel besonders stark ausgeprägt, in säkular-individualistischen Ländern wie Schweden, Japan, Griechenland und Deutschland hingegen deutlich schwächer, vor allem aber schwächer im Vergleich zu den Jahrzehnten zuvor.4Inglehart, Ronald und Welzel, Christian (2005) Modernization, Cultural Change and Democracy. New York und Cambridge: Cambridge University Press, S. 141 f.; eine detaillierte Diskussion findet sich in … Mehr anzeigen
Die Mitte-Studie ist ein weiterer beispielhafter Datenpunkt: Alle Einstellungen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit sind in den letzten 15–20 Jahren zurückgegangen, die meisten haben sich fast halbiert: Rassismus, Sexismus, Abwertung homosexueller Menschen, Antisemitismus (klassisch und israelbezogen), Fremdenfeindlichkeit, Muslimfeindlichkeit, und das geschlossene rechte Weltbild. Dass kein Wert über Null liegen sollte, versteht sich von selbst. Sie erwähnen die „Abwertung asylsuchender Menschen“, die bei etwa 50 Prozent liegt. Keine Frage: Auch dieser Wert fällt 50 Prozentpunkte zu hoch aus. Allerdings wird er erst seit neun Jahren erhoben, man hat also keinen Vergleich zum Jahrzehnt davor. Übrigens ist nicht ganz unumstritten, ob man von den Fragen in der Studie tatsächlich auf diese Einstellungen schließen kann. Viele Kritiker, inklusive Claus Kleber in einem ARD-Interview, haben das Problem angesprochen, dass die Ablehnung der Aussage „der Staat sollte bei der Prüfung von Asylanträgen großzügig sein“ in der Studie ein Kriterium für „negative Einstellungen gegenüber Asylsuchenden“ sein soll. Das schreibt Menschen, die meinen, der Staat solle sich exakt nach den Gesetzen richten, und daher die Frage verneinen, negative Einstellungen gegenüber Asylsuchenden zu.
Selbst wenn sich dieses methodische Problem aus der Welt räumen lässt, deuten unabhängig davon andere langfristige Erhebungen auf einen positiven Trend hin. Im Sozialbericht der Bundesregierung werden die Einstellungen der Deutschen zum „Zuzug Schutzsuchender“ seit 30 Jahren ermittelt.5Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland 2018, S. 407 Der Anteil derjenigen, die fordern, dass der Zuzug von Schutzsuchenden ganz unterbunden werden solle (einfach gesagt „der rechte Rand“), nahm in den letzten 25 Jahren von deutlich über 20 Prozent auf deutlich unter 10 Prozent ab. Umgekehrt stieg der Anteil der Leute, die für uneingeschränkt offene Grenzen sind (einfach gesagt „der linke Rand“), von etwa 12 Prozent auf über 25 Prozent. Der Anteil derer, die die Mittelposition eines begrenzten Zuzugs vertraten, verharrte relativ konstant bei etwa 65 Prozent.
Ein zweiter Grund, warum viele die positive Entwicklung falsch einschätzen, ist neben unserer erhöhten Sensibilisierung für Menschenfeindlichkeit der sogenannte „Concept Creep“, also die Begriffserweiterung, um die es mir im Artikel ging.6Levari, David E. et al. (2018) “Prevalence-induced Concept Change in Human Judgment” Science 360(6396): 1465–1467 Besonders deutlich zeigt sich die Begriffserweiterung beim Sprachwandel von Wörtern, die Phänomene bezeichnen, durch die jemand zu Schaden („harm“) kommt, etwa „Missbrauch“, „Mobbing“, „psychische Störung“, „Trauma“, „Sucht“, „Vorurteil“ und eben „Rassismus“, wie Nick Haslam beispielhaft fürs Englische gezeigt hat.7Haslam, Nick (2016) “Concept Creep: Psychology’s Expanding Concepts of Harm and Pathology” Psychological Inquiry 27(1): 1–17
Der dritte Grund für die Fehleinschätzung der Entwicklung ist die Verfügbarkeitsheuristik: Weil wir mehr in den Medien und der Öffentlichkeit über drastische Fälle sprechen, haben wir den Eindruck, es seien auch statistisch mehr geworden. Das ist aber oft ein Irrtum. Der schwedische Statistiker Hans Rosling hat in seiner Forschung gezeigt, dass Menschen glauben, die Welt werde immer schlechter, obwohl sie faktisch fast überall besser geworden ist.8Rosling, Hans (2018) Factfulness. The Reasons We’re Wrong about the World – and why Things are Better than you Think. London: Sceptre, S. 3 f. Besonders Intellektuelle haben einen starken „Negativity Bias“, wie er sagt. Das könnte der tiefere Grund für die oft zu beobachtende Abwehrhaltung gegenüber den Daten sein. Stellt man Probanden Fragen wie „Wie viele Menschen in der Welt haben Zugang zu Elektrizität?“ oder „Wie viele einjährige Kinder weltweit sind gegen eine Krankheit geimpft?“ mit den Optionen „20“, „40“ und „80“ Prozent, so kreuzen die wenigsten „80 Prozent“ an. Das ist aber in beiden Fällen die korrekte Antwort.9mehr hier: https://ourworldindata.org/ Rosling hat in einer Studie 12.000 Teilnehmern aus 14 Ländern insgesamt 12 dieser Fragen gestellt. Nur eine einzige Person hat alle Fragen richtig beantwortet. Im Mittel lagen die Probanden nur in zwei von 12 Fällen richtig, weit unterhalb der Marke, die man durch bloßes Raten hätte erreichen können. Bevor man die Statistiken nicht gesehen hat, ist man in der Tat erst skeptisch, jedenfalls ging es mir so. Interessant dabei ist: Je gebildeter die Versuchspersonen waren, desto schlechter schnitten sie in den Fragen ab. Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträgerpreisträger waren in ihrer Einschätzung noch schlechter als Laien.
Sie unterstellen, ich hätte gesagt „die Rede von strukturellem Rassismus beschuldigt … jede weiße Person, manifest rassistische Auffassungen zu haben“. Das ist nicht meine Auffassung. Erstens gibt es einige klar definierte Ansätze, die die Wörter „strukturelle Ungerechtigkeit“ oder „strukturelle Diskriminierung“ verwenden, etwa Elizabeth Anderson in Ihrem Buch The Imperative of Integration oder Sally Haslanger in ihrem Aufsatz „Racism, Ideology, and Social Movements“.10Anderson, Elizabeth (2010) The Imperative of Integration. Princeton: Princeton University Press; Sally Haslanger (2017) „Racism, Ideology, and Social Movements“ Res Philosophica 94, 1 Meiner Ansicht nach kann man diese Redeweisen aber auf die drei obengenannten Begriffe von Rassismus zurückführen.11ähnlich argumentiert Iris Young in Young, Iris (1990) Justice and the Politics of Difference. Princeton: Princeton University Press.
Vor allem aber bezog sich meine Kritik an der Redeweise „struktureller Rassismus“ auf diffuse, weitgefasste Definitionen, die eben nicht analytisch genau oder empirisch überprüfbar von „Macht“, „Hierarchien“, „Stereotypen“, „Normen“ und dergleichen sprechen. Beispielhaft habe ich eine „Extremposition“ angesprochen, von der die öffentliche Debatte „inspiriert“ ist und die unter anderem Robin DiAngelo in ihrem Buch White Fragility vertritt, das sich fast eine Million Mal in den USA verkauft hat. DiAngelo schreibt, jeder und jede Weiße sei ein Rassist/in, um gleich hinzuzufügen, das sei nicht wertend, sondern deskriptiv gemeint.12DiAngelo, Robin (2018) White Fragility. Why is it so Hard for White People to Talk about Racism. Boston: Beacon Press Gleichzeitig behauptet sie, offenbar wertend, Weiße seien „Komplizen“ in einem System von „Autorität“ und „Kontrolle“.
Weitere Beispiele für extrem weitgefasste Definitionen: Ibram X. Kendi schreibt in seinem Buch How to be an Antiracist, ebenfalls auf dem Weg zum Millionenbestseller, Rassismus läge immer dann vor, wenn Ungleichheit zwischen ethnischen Gruppen bestehe, ganz gleich, wie diese zustande gekommen sei.13Kendi, Ibram X. (2017) How to be an Antiracist. New York: One World Ein Rassist sei jeder, der nicht aktiv gegen Ungleichheit vorgehe. Ferner: „Racism itself is institutional, structural, and systemic“. Faktoren, die dazu beitragen, seien „written and unwritten laws, rules, procedures, processes, regulations, and guidelines“. Keith Lawrence und Terry Keleher schreiben in einem im Antirassismus-Training oft zitierten Aufsatz „Structural Racism is … a system of hierarchy and inequity, primarily characterized by white supremacy“. Und Omowale Akintunde hält fest „Racism is a systemic, societal, institutional, omnipresent, and epistemologically embedded phenomenon that pervades every vestige of our reality.“14Akintunde, Omowale (1999) “White Racism, White Supremacy, White Privilege, and the Social Construction of Race: Moving from Modernist to Postmodernist Multiculturalism” Multicultural Education 7, … Mehr anzeigen
Diese beispielhaften Thesen sind nicht auf die US-amerikanischen Diskussion beschränkt, sondern verbreiten sich – wie fast alle Themen – auch in der deutschen. „Struktur“ und „System“ sind darin oft Plastikwörter, die gelehrt klingen, aber so gut wie nie klar definiert sind und daher ominös bleiben.15Pörksen, Uwe (1988) Plastikwörter: Die Sprache einer internationalen Diktatur. Stuttgart: Klett Cotta Der ontologische Status von so unterschiedlichen Entitäten wie Regeln, Gesetzen, Hierarchien, Kontrolle, Ungleichheit und Prozeduren bleibt ebenfalls völlig unklar.16Ein schöner Überblick über weitere verschiedene Extrempositionen oder weite Verwendungen des Begriffs in der US-Debatte findet sich hier: … Mehr anzeigen Man kann selbstverständlich so sprechen, wie ich in der Kolumne ja anmerke, weil niemand ein Patentrecht auf theoretische Begriffe hat. Aber ob diese Redeweise irgendetwas erhellt, halte ich für fraglich.
Sie selbst schreiben in Ihrem offenen Brief: „Strukturen sind schlichtweg größer und mächtiger als jede Einzelne, sie werden von der Sprache getragen, von Narrativen, Mythen und kulturellen Traditionen, von Institutionen (Bildungsinstitutionen, aber auch Familie) und schlagen sich im Alltagshandeln nieder.“
Genau das halte ich für eine diffuse Definition. Erstens müssen es Menschen, also Individuen sein, die Narrative (Geschichten?) erzählen, in Bildungseinrichtungen arbeiten und in Familien leben. Also geht es am Ende um die bewussten und unbewussten Einstellungen von Individuen. Wieder stellt sich die Frage, was an „Strukturellem“ zusätzlich übrigbliebe, würde man die drei obengenannten Formen von bewusstem, unbewusstem und institutionellem Rassismus eliminieren.
Zweitens hat die Rede von „Strukturen“ auch allerlei praktische Konsequenzen sowohl für die wissenschaftliche als auch für die öffentliche Diskussion. Wenn der Rassismus-Begriff weit gefasst ist, verwischt man die mühsam erarbeiteten analytischen Unterschiede, die die quantitativen Sozialwissenschaften für die Forschung benötigen. Davon hängen nämlich unmittelbar die sinnvollen Policy-Maßnahmen der Politik ab. Wenn beispielsweise sowohl unzureichende Sprachkenntnisse als auch Diskriminierung Faktoren sind, die den Bildungserfolg mindern, dann muss der Staat beides tun: Diskriminierung bekämpfen, etwa mit Aufklärung, und Sprachkurse anbieten und ausbauen, anstatt alles unter „strukturelle Diskriminierung“ zu verbuchen. Zudem kann man Strukturen moralisch nicht verantwortlich machen, sondern nur Menschen für ihre Handlungen in diesen „Strukturen“. Mein Eindruck ist sogar: Die Rede von „Strukturen“ entlastet eher von der Verantwortung, denn Menschen können sich jetzt für ihr Handeln herausreden. Ferner entwertet die weite Verwendung von Rassismus den moralischen Vorwurf, der mit der Bezeichnung „Rassist“ einhergeht. Und: Menschen außerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften denken äußerst selten in Kategorien des „Systems“ und der „Struktur“. Viele der etwa 83 Prozent der Menschen in Deutschland, die keinen akademischen Abschluss haben und die akademischen Sprachspiele gar nicht kennen, werden den Vorwurf „Rassismus“ als einen Vorwurf gegenüber dem Charakter verstehen, der verständlicherweise moralisch und emotional extrem aufgeladen ist. Wie Elisabeth Anderson feststellt, führt der begrifflich weit gefasste Vorwurf, der aber eng interpretiert wird, eher zu Trotz, Unverständnis oder schlicht dazu, dass die Menschen das Thema nicht ernst nehmen.17Anderson, Elizabeth (2010) The Imperative of Integration. Princeton: Princeton University Press, S. 48 f.
Sie schreiben von den Vorteilen, die Menschen aus der Mittel- und Oberschicht (oder Mittel- und Oberklasse) haben. Das halte ich wie Sie für ein Gerechtigkeitsproblem. In Deutschland sind Menschen mit Migrationsgeschichte überproportional in den einkommensschwächeren Schichten (oder Klassen) zu finden. Das führt zu etlichen Nachteilen und „Folgekosten“ in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Arbeit und in anderen. In Deutschland sind die Bildungs- und die ökonomischen Aufstiegschancen beispielsweise deutlich schlechter als in den meisten OECD-Ländern.18Ein ernüchternder Überblick über die Lage findet sich hier: https://www.bundestag.de/resource/blob/634368/071d34cdd0f392f049f3cc4894f2b61e/WD-9-095-18-pdf-data.pdf Das trifft allerdings alle Menschen unterhalb der Mittelklasse und dabei handelt es sich, wenn man es als Diskriminierung konzeptualisieren will, um eine Diskriminierung aufgrund der Klasse oder sozialen Schicht (was im Grundgesetz übrigens erstaunlicherweise gar nicht als Diskriminierungsgrund genannt ist) und nicht um eine rassistische Diskriminierung, also eine aufgrund der Herkunft oder Ethnie. Ungleichheit ist oft eine Form von Ungerechtigkeit, die immer moralisch falsch ist. Aber nicht jede Ungleichheit, die statistisch überproportional eine Gruppe betrifft, ist eine Ungerechtigkeit und schon gar nicht eine des „strukturellen Rassismus“. Dass für einen Teil der Menschen mit Migrationsgeschichte zusätzlich zu Nachteilen durch Klassenzugehörigkeit außerdem noch rassistische Diskriminierung hinzukommt, macht ihre Situation besonders schwierig. Um das zu ändern, muss man (und vor allem die Politik) aber differenzieren.
Meine Vermutung: Weil „Rassismus“ ein „morally thick concept“ ist, ein Begriff also, der ein deskriptives Element („das und das ist Rassismus“) und ein normatives Element („Rassismus ist moralisch schlecht“) enthält, wollen einige alle Formen der Ungleichheit, die sie für moralisch falsch halten, dem deskriptiven Teil zuordnen, um sie dann moralisch verurteilen zu können. Mit dem Verfahren geht man in gewisser Weise auf Nummer sicher, weil man keine „falschen Negative“ hat, wie die Statistiker sagen, also Fälle von rassistischer Diskriminierung, die man übersieht. Man produziert aber „falsche Positive“, indem man Ungleichheiten, die gar nicht auf Rassismus in den drei genannten Lesarten zurückgehen, als Indikator für Rassismus ansieht. Tatsächlich kann man ungerechte Ungleichheit, die überproportional Menschen mit Migrationsgeschichte trifft, auch unabhängig davon moralisch kritisieren. Dafür muss man in jedem Fall beim Output (Ungleichheit) ansetzen, um dann den Input genauer zu untersuchen. Und da hilft ein diffuser Begriff, wie gesagt, nicht weiter.
Sie behaupten, ich würde „implizit Menschsein mit Weißsein“ gleichsetzen. Das ist eine starke Unterstellung, die an eine Verleumdung grenzt. Sie gibt in keiner Weise meine Auffassung wieder. Ich bezog mich auf Ansätze, die behaupten, alle Menschen (jeder Hautfarbe und Herkunft) seien Rassisten, weil sie Stereotype über andere Gruppen kennen würden (oder nach ihnen urteilten), beziehungsweise noch weiter gefasst: weil sie im höchst umstrittenen Implicit Association Test (IAT) nicht neutral abschnitten. Aber in der Tat fehlte da im Text ein Halbsatz, der den Anschluss zu den Stereotypen eindeutig herstellt, sodass man auch denken konnte, ich bezöge mich auf die weiter oben referierte Extremposition.
In den USA wird dieselbe Debatte natürlich viel ausführlicher geführt. Wie es der Zufall so will, hat John McWhorter vor wenigen Tagen einen Essay zu exakt demselben Thema mit exakt denselben Beispielen, Problemen und Argumenten wie in meiner Kolumne veröffentlicht. Das führt mich zu Ihrer Frage „Wer genau kann einen solchen Standpunkt überhaupt diskutieren?“. Meine Antwort lautet: Jede oder jeder, am besten mit empirischen Studien und klaren Begriffen.
Ihre Fragen und der erkenntnistheoretische Relativismus, der dabei vielleicht mitschwingt, bringen mich zum letzten Punkt. So gerne ich, wie man sieht, über Begriffsfragen ausführlich diskutiere, ist es doch befremdlich, dass Sie mit einem offenen Brief auf eine Kolumne reagiert haben, anstatt mich direkt anzuschreiben. Niemand wird nach kritischen Texten zur Willensfreiheit, Molekularbiologie oder zum Dreißigjährigen Krieg aufgefordert, auf einen offenen Brief zu antworten. Ich habe es getan, weil die Vorwürfe im Raum standen.
Ihr Vorgehen sendet aber das falsche Signal, vor allem an die Studentinnen und Studenten der UdK, die jetzt den Eindruck bekommen müssen, die Universität sei nicht der Ort des freien Austauschs von Argumenten und Ideen, sondern vielmehr ein Ort, an dem eine (scheinbar?) abweichende Positionen dazu führt, dass man sich coram publico verteidigen muss.
So wichtig Diversität der Biographien ist, für die wir uns alle einsetzen, die Diversität der Theorien und Argumente darf man dafür nicht opfern, auch wenn man glaubt, für eine gute Sache zu streiten. Aber vielleicht trägt unsere kleine Unterhaltung dazu bei, das Feld der Standpunkte zu erweitern oder gar neu zu bestellen.
Mit besten Grüßen
Philipp Hübl
Referenzen
1 | Deutsche und europäische Studien dazu finden sie hier: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/119/1811970.pdf (S. 79 f.); https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/269248/antisemitismus-bei-muslimen; https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2017-antisemitism-update-2006-2016_en.pdf |
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2 | Pinker, Steven (2011) The Better Angels of our Nature. The Decline of Violence in History and Its Causes. New York: Allen Lane |
3 | El-Mafaalani, Aladin (2018) Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt. Köln: Kiepenheuer & Witsch |
4 | Inglehart, Ronald und Welzel, Christian (2005) Modernization, Cultural Change and Democracy. New York und Cambridge: Cambridge University Press, S. 141 f.; eine detaillierte Diskussion findet sich in Hübl, Philipp (2019) Die aufgeregte Gesellschaft. Wie Emotionen unsere Werte prägen und die Polarisierung verstärken. München: C. Bertelsmann, S. 133 f. |
5 | Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland 2018, S. 407 |
6 | Levari, David E. et al. (2018) “Prevalence-induced Concept Change in Human Judgment” Science 360(6396): 1465–1467 |
7 | Haslam, Nick (2016) “Concept Creep: Psychology’s Expanding Concepts of Harm and Pathology” Psychological Inquiry 27(1): 1–17 |
8 | Rosling, Hans (2018) Factfulness. The Reasons We’re Wrong about the World – and why Things are Better than you Think. London: Sceptre, S. 3 f. |
9 | mehr hier: https://ourworldindata.org/ |
10 | Anderson, Elizabeth (2010) The Imperative of Integration. Princeton: Princeton University Press; Sally Haslanger (2017) „Racism, Ideology, and Social Movements“ Res Philosophica 94, 1 |
11 | ähnlich argumentiert Iris Young in Young, Iris (1990) Justice and the Politics of Difference. Princeton: Princeton University Press. |
12 | DiAngelo, Robin (2018) White Fragility. Why is it so Hard for White People to Talk about Racism. Boston: Beacon Press |
13 | Kendi, Ibram X. (2017) How to be an Antiracist. New York: One World |
14 | Akintunde, Omowale (1999) “White Racism, White Supremacy, White Privilege, and the Social Construction of Race: Moving from Modernist to Postmodernist Multiculturalism” Multicultural Education 7, 2: 1 |
15 | Pörksen, Uwe (1988) Plastikwörter: Die Sprache einer internationalen Diktatur. Stuttgart: Klett Cotta |
16 | Ein schöner Überblick über weitere verschiedene Extrempositionen oder weite Verwendungen des Begriffs in der US-Debatte findet sich hier: https://edition.cnn.com/2020/06/20/us/racist-google-question-blake/index.html |
17 | Anderson, Elizabeth (2010) The Imperative of Integration. Princeton: Princeton University Press, S. 48 f. |
18 | Ein ernüchternder Überblick über die Lage findet sich hier: https://www.bundestag.de/resource/blob/634368/071d34cdd0f392f049f3cc4894f2b61e/WD-9-095-18-pdf-data.pdf |
Brief von Henrike Lehnguth und Kathrin Peters an Philipp Hübl (14.4.21)
„That life is complicated may seem a banal expression of the obvious, but it is nonetheless a profound theoretical statement – perhaps the most important theoretical statement of our time.” (Avery Gordon)
Lieber Herr Hübl,
Ihre Antwort, die ja nicht nur die Länge unseres Kommentars, sondern auch die Ihrer ursprünglichen Kolumne übertrifft, hat einige Missverständlichkeiten der Kolumne ausgeräumt. Für die unvorbereitete Hörerin konnte es zunächst so klingen, als ob nicht nur „struktureller“ Rassismus für Sie ein Unding sei, sondern das Vorkommen von Rassismus überhaupt überbewertet würde. Das dem nicht so ist, haben Sie klargestellt, insbesondere auch im Gespräch mit Daniel James.
Über die Studien, die Sie nennen, lässt sich endlos debattieren, und Sie führen ja auch die Schwierigkeiten von Fragestellungen, Kategorien und Datenauswertungen, das Problem der Repräsentativität befragter Gruppen und der sozialen Erwünschtheit von Antworten an. Quantitative Erhebungen sind wichtig, aber ihre Ergebnisse eben auch alles andere als evident, weil sie auf historischen Begriffen und auf Vorannahmen beruhen, die immer wieder befragt werden müssen. Weil die grundsätzliche Faktizität von Rassismus außer Frage steht, geht es uns vor allem um die matters of concern, um die Dinge, die uns betreffen.1Bruno Latour: Das Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Berlin/Zürich 2007 Es liegt wohl auf der Hand, dass Rassismus für uns alle von größerem Belang ist als der Dreißigjährige Krieg, um bei Ihrem Beispiel zu bleiben. Auch an der UdK Berlin kommen rassistische Rede und Handlungen vor, an denen im Lehrzusammenhang zum Beispiel kein Anstoß genommen wird, weil sie gar nicht wahrgenommen oder als normal, im Sinne von üblich, abgewehrt werden.2Adela Lovric: Amplifying the Unheard Voices: A Statement & Conversation With Sarah Herfurth & Dalís Pacheco, 2021 https://criticaldiversity.udk-berlin.de/amplifying-the-unheard-voices/; … Mehr anzeigen Wodurch ist denn ein unconscious bias, der sich hier zeigt, begründet? Was macht überhaupt aus, was wahrnehmbar ist? Auch die Frage nach dem wissenschaftlichen und künstlerischen Kanon, der häufig ausschließlich weiße Perspektiven umfasst (damit ist nicht die Hautfarbe der Autor*innen / Künstler*innen gemeint) und der zugleich perpetuiert, was als relevant betrachtet wird und was nicht, muss gestellt werden.3Siehe die Schweizerische Studie: Philippe Saner, Sophie Vögele und Pauline Vessely: Art.School.Differences. Researching Inequalities and Normativities in the Field of Higher Art Education, … Mehr anzeigen Wir wüssten nicht, wie das besser zu nennen wäre als „strukturell“.4Bezeichnet werden damit, grob gesagt, unausgesprochene Normen und Regeln. Wir halten uns unter anderem an Michel Foucault, Gayatri Spivak und Judith Butler, mit denen das Verhältnis von Strukturen … Mehr anzeigen Dass Sie Struktur, System und Norm zu „Plastikwörter“ erklären – eine Formulierung, die man leicht selbst für das halten könnte, was sie zu beschreiben sucht –, ist natürlich eine Provokation für ganze Bereiche der Kultur- und Geisteswissenschaft, im Übrigen auch der Soziologie und Ethnologie. Welche Kulturtheorie stützt sich nicht in der ein andere Weise auf ein Konzept von Struktur?5Für einen Überblick: Stephan Moebius, Dirk Quadflieg (H.): Kultur.Theorien der Gegenwart, Wiesbaden (2. Auf.) 2011; Philipp Sarasin: Fast Forward. Kulturtheorien und Kulturkonzepte im Überblick, … Mehr anzeigen Für uns wiederum ist eine positivistische und anthropozentrische Position analytisch nicht viel versprechend. Wie sollten wir Produktion in den Künsten auch verstehen, ohne die Eigenlogik von Medien und Materialität, ohne die Bedeutung kultureller Repräsentationen und ohne verkörpertes Wissen anzuerkennen? Aber egal mit welcher Definitionshoheit man welche Begriffe klassifizieren möchte, wäre es auch möglich, einer Wendung, selbst wenn man sie falsch oder auch nur jargonhaft findet, nicht zu widersprechen, weil man um deren enorme Bedeutung für Betroffene und Aktivist*innen weiß, deren Anliegen man ja prinzipiell unterstützt.
Verbleiben wir doch so: Let’s agree to disagree. Und so teilen wir auch Ihre Einschätzung, wir hätten Sie direkt anschreiben sollen, anstatt einen offenen Brief zu formulieren, nicht. Sie haben mit ihrer Kolumne im DLF ihre Meinung sehr öffentlich dargelegt – und zwar als Gastprofessor der UdK Berlin. Vor diesem Hintergrund und weil es uns ein Anliegen ist, Menschen innerhalb und außerhalb der UdK Berlin wissen zu lassen, dass Ihre Meinung zu strukturellem Rassismus nicht stillschweigend geteilt wird, haben wir die Form des offenen Briefs gewählt. Warum sollte eine Pluralität von Argumenten, für die die Universität ohne Zweifel einsteht, eher gesichert sein, wenn wir unsere Position nicht dargelegt hätten? Mit Widerspruch muss schließlich immer gerechnet werden.
Abschließend möchten wir Sie einladen, sich mit der Jerusalem Declaration On Antisemitism, zu befassen, die vor wenigen Wochen veröffentlicht wurde. Ihre Einteilung in klassischen, israelbezogenen und muslimischen Antisemitismus – in der Muslim*innen als einzige Personengruppe herausgegriffen werden –, kommt dort nicht vor. Die Jerusalem Declaration geht einen anderen Weg, unter anderem indem sie Antisemitismus in den größeren Kontext von Rassismus stellt und verdeutlicht, dass faktenbasierte Kritik an Israel als Staat nicht per se antisemitisch ist.
Beste Grüße
Henrike Lehnguth
Kathrin Peters
Referenzen
1 | Bruno Latour: Das Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Berlin/Zürich 2007 |
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2 | Adela Lovric: Amplifying the Unheard Voices: A Statement & Conversation With Sarah Herfurth & Dalís Pacheco, 2021 https://criticaldiversity.udk-berlin.de/amplifying-the-unheard-voices/; https://exitracismudk.wordpress.com/ |
3 | Siehe die Schweizerische Studie: Philippe Saner, Sophie Vögele und Pauline Vessely: Art.School.Differences. Researching Inequalities and Normativities in the Field of Higher Art Education, Schlussbericht (2016) https://blog.zhdk.ch/artschooldifferences/schlussbericht; |
4 | Bezeichnet werden damit, grob gesagt, unausgesprochene Normen und Regeln. Wir halten uns unter anderem an Michel Foucault, Gayatri Spivak und Judith Butler, mit denen das Verhältnis von Strukturen bzw. Diskursordnungen und Handlungsfähigkeit gedacht werden kann. |
5 | Für einen Überblick: Stephan Moebius, Dirk Quadflieg (H.): Kultur.Theorien der Gegenwart, Wiesbaden (2. Auf.) 2011; Philipp Sarasin: Fast Forward. Kulturtheorien und Kulturkonzepte im Überblick, in: Thomas Forrer, Angelika Linke (Hg.): Wo ist Kultur? Perspektiven der Kulturanalyse, Zürich 2011 https://www.ciando.com/img/books/extract/3728135984_lp.pdf |