Über drei Tage versammelte das Symposium Unlearning University, fakultätsübergreifend organisiert von Lehrenden, Studierenden sowie Beauftragten für Diversität und Barrierefreiheit Stimmen für eine diskriminierungskritischere Kunsthochschule im Medienhaus der UdK Berlin. Themen sind Zugänge zum Studium an der Kunsthochschule, Prozesse der Kanonisierung und die damit verbundene Notwendigkeit der Kanonkritik. Es wird danach gestrebt, neue Wege des Lernens und Lehrens zu erkunden. Doch was bedeutet es für die Kritik der traditionellen Bildungsinstitution, wenn diese Kritik in den Räumen der Institution selbst geübt wird? Es stellt sich die Frage, wie voreingenommen Räume sein können. Wie beeinflussen Räume Emotionen, Verhalten und Lernprozesse. Kann in denselben Räumen gelernt und verlernt werden?
Kunsthochschulen sind exklusive Räume. Hiermit meine ich nicht die Art von Exklusivität, die Sophie Vögele in der Studie Art.School.Differences beschreibt – in der Studie geht es um die Frage, wer zum künstlerischen Studium zugelassen wird und wer nicht.1Vögele, Sophie / Saner, Philippe (Hg.): Art.School.Differences., Zürich 2022 Mir geht es um den physischen Raum: Um das Gebäude betreten zu können, muss an der Pforte geklingelt und es muss Einlass gewährt werden. Dies gilt sowohl für Student*innen als auch Besucher*innen. Die Kunstuniversität ist kein Raum, durch den sich frei bewegt werden kann, sondern einer, der überprüft wird und dessen Zugang nur selektiv gewährt wird. Hat man es einmal in das Gebäude geschafft, fällt der Blick auf die Inneneinrichtung. Geschmackvolle Designerstühle und industriell anmutende schwarze Tische in den Unterrichts- und Arbeitsräumen situieren diesen Ort, im Gegensatz zu einer sonstigen Bildungseinrichtung, klar als Kunsthochschule, die sich wiederum in einem westlichen Designkanon verortet. Dabei ist das Darstellen von Geschmack immer auch Ausdruck von kulturellem Kapital2DiMaggio, Paul: „Classification in Art.“, in: American Sociological Review, Bd. 52, Nr. 4, 1987, S.440–455.. Die richtigen Referenzen zu kennen wird vom Mobiliar geradezu vorausgesetzt – und damit auch eine spezifische Klassenzugehörigkeit.
Das Gebäude an sich demonstriert seine Rolle durch die schiere Größe, sein Alter und der damit verbundenen Geschichtsträchtigkeit. Es beansprucht eine gewisse Ehrfurcht und Seriosität für sich. Eine Forderung, die beim Durchschreiten der Räumlichkeiten mit dem Nachhallen jedes einzelnen Schritts deutlich spür- und hörbar wird.
Die Veranstalter*innen des Symposiums haben sich bemüht, die Universität durch eine Reihe von Raumtransformationen und -erweiterungen aus ihrem gewohnten Modus zu befreien. Der Alltag an der Bildungsinstitution ist geprägt von ritualisierten Abläufen an immer denselben Orten, die über die Zeit hinweg durch Wiederholung zu einem festen Bestandteil der studentischen Erfahrung werden. Ich frage mich, inwiefern es möglich ist, diese bestehenden Erfahrungen beiseite zu lassen und so Platz für etwas Neues zu schaffen. Obwohl der Veranstaltungsort vermutlich nicht mit der bewussten Entscheidung gewählt wurde, dass dies genau der richtig Raum für diese Konferenz sei, sondern viel mehr aus praktischen Gründen, beeinflusst er doch, welche Art von Aktionen überhaupt möglich sind. Oder wie es der Philosoph und Soziologe Henri Lefebvre darstellt: „Activity in space is restricted by that space; space ‚decides‘ what actually may occur, but even this ‚decision‘ has limits placed upon it.“3Lefebvre, Henri: The Production of Space, Oxford 1991 [zuerst Paris 1974], S.143 Räume sind demzufolge nicht nur Kulissen, sondern Akteure für das soziale Leben, die Wege eröffnen oder blockieren.
In der Aula des Medienhauses, dem Hauptveranstaltungsort des Symposiums, auf den ich mich für meine Argumentation beziehe, finden normalerweise Vorlesungen oder auch der Semesterauftakt statt. Unzählige Male habe ich hier schon gesessen. Diesmal soll jedoch vieles anders werden: Die Sprechenden unterscheiden sich von denen, die ich hier zuvor gehört habe, und auch der Raum sieht anders aus. Die Reihen der üblichen grauen Hartschalen-Stühle sind durchsetzt von bunten Sofas und Sitzsäcken, auf denen jeweils eine Handvoll Personen Platz finden. Im hinteren Teil des Raums wurde ein Tisch mit einer Decke versehen und zum Buffet umfunktioniert, an dem warme Getränke und Kleinigkeiten zu Essen angeboten werden. Gegenüber wurde eine Leseecke installiert. Auf einem aus hellem Holz gefertigten Podest wird Literatur bereitgestellt, die zum Thema der Veranstaltung passt. Die Aula ist auf Frontalpräsentationen ausgelegt; es geht hier um den Fokus von vielen auf eine kleine Gruppe, was sich auch in Beleuchtung und Akustik spiegelt, nicht darum, sich gegenseitig zuzuhören. Dies wird jedes Mal aufs Neue klar, sobald eine Person aus dem Publikum versucht, an dem Gespräch vorne teilzunehmen. Die Rauminterventionen erweitern zwar den Horizont an Möglichkeiten zum gegenseitigen Austausch, doch die grundlegende Ausprägung der Räumlichkeiten kann nicht überwunden werden. Hinzu kommt der symbolische Raum, dessen Bedeutung, selbst wenn die physische Struktur verändert wird, andauert. Was ich unter dem symbolischen Raum verstehe, möchte ich anhand der Positionen von zwei Denker*innen im Folgenden konkretisieren.
In der Phänomenologie beschreibt Edmund Husserl, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen und wie diese Wahrnehmung unser Verständnis von Realität formt, anhand eines Tisches, dessen Betrachtung nicht einfach nur ein passiver Prozess sei, bei dem wir lediglich die äußeren Eigenschaften des Tisches registrieren. Husserl beschreibt seine haptische Wahrnehmung beim Berühren des Tisches: „Die Hand liegt auf dem Tisch. Ich erfahre den Tisch als ein Festes, Kaltes, Glattes.“4Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und Phänomenologischen Philoso-phie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution (ca. 1913) in: Husserliana Bd. IV, hg. … Mehr anzeigen, womit er die Verbindung zwischen Körpern und Objekten verdeutlicht. Die Sinneswahrnehmung der Hautoberfläche zeigt, dass das Empfinden nicht im Objekt oder im Körper liegt, sondern erst als Effekt der Begegnung Form annimmt. Husserl beschreibt das Aufeinandertreffen als eine unumgängliche Verbindung zwischen dem Körper und seiner Umgebung. Oder anders ausgedrückt: Die Räume, in denen wir uns aufhalten, werden auch ein Teil von uns; wir formen und werden geformt.
Zusätzlich möchte ich Überlegungen von Sara Ahmed, einer bekannten Theoretikerin der queeren und intersektionalen Studien, hinzuziehen, in denen sie unter anderem den Prozess der Konditionierung untersucht: „[…] what we ‚do do‘ shapes what we ‚can do‘.“5Ahmed, Sara: Queer Phenomenology: Orientations, Objects, Others, New York 2006, S. 59 Ähnlich einem Muskel, der immer wieder dasselbe tut und mit den gleichen Aufgaben und Anstrengungen konfrontiert ist, diese im Laufe der Zeit leichter fallen werden. Anforderungen hingegen, die nicht trainiert werden, werden verlernt oder sind nur schwer zu meistern. Ein weiteres Beispiel könnte eine rechtshändige Person sein, die versucht mit ihrer linken Hand zu schreiben. Was wir tun begünstigt, was wir in Zukunft tun werden. Oder: Was wir denken begünstigt, was wir in Zukunft denken werden.
Ergänzen wir die Ausführungen von Ahmed und Husserl, so können wir schlussfolgern, wie groß der Einfluss und wie bestimmend die Wechselwirkung zwischen unseren Körpern und ihrer Umwelt ist. In einem ersten Schritt geht der Körper eine Symbiose mit dem Raum ein, in dem er sich befindet, entsprechend der Schilderung von Husserl – ein unbewusster Prozess. Dieser entscheidet nun mit, wie wir uns durch den Raum bewegen, wie wir ihn wahrnehmen, aber auch was wir empfinden. In einem zweiten Schritt führt die Repetition, so drückt es Ahmed aus, zu einer Art Gewöhnung, die sich in unserem Körper speichert und zukünftige Erfahrungen prägt.
Von diesem Punkt an entsteht eine Spirale. Vergangene und zukünftige Erfahrung werden in einen Prozess der Angleichung versetzt. Was wir im Kontext eines Raums erlebt haben, werden wir in diesem wieder erleben. Konkludiert werden kann demgemäß, dass bestimmte Räume auch immer nur bestimmte Aktionen und Emotionen zulassen. Infolgedessen sind Räume nicht neutral; sie spiegeln Machtverhältnisse wider. Insbesondere in etablierten Bildungseinrichtungen wie Universitäten kommen solche Strukturen im physischen Raum zum Ausdruck und die Räumlichkeiten werden zu Trägern symbolischer Eigenschaften.
In Anbetracht der Theorien wird mir deutlich, weshalb es für mich, der mit den Räumlichkeiten der Veranstaltung so vertraut ist, so schwerfiel, die Trennung zwischen dem physischen und symbolischen Raum vorzunehmen. Die Räumlichkeiten sind fundamental mit der Darstellung sowie der Reproduktion von Normen, Hierarchien und Machtstrukturen verbunden – mit all dem, was während des Symposiums in Frage gestellt wurde. Mir wird klar, warum die durch das veränderte und ergänzte Mobiliar suggerierte lockere Atmosphäre fehlplatziert auf mich gewirkt hat. Es war wie ein Zwiegespräch zwischen dem Bestehenden, aufgeladen durch jahrelange Erfahrungen, und dem Hinzugefügtem, bei dem keine der Parteien die Andere zu übertrumpfen vermochten.
Dass eine Aneignung von Räumen in einem gewissen Maße möglich ist, möchte ich in keinem Fall abstreiten. Beispielhaft hierfür sind im Medienhaus der UdK Berlin die All-Gender-Toiletten bzw. die Beschilderung dieser. Sie sind mit selbst gestalteten, nicht stereotypen Piktogrammen ausgezeichnet.6Durch das Gebäudemanagement wurden inzwischen professionell gestaltete Piktogramme angebracht. Das Leitsystem weist aber immer noch ausschließlich binäre WCs aus; es bleibt eine ewige Transition. Trotz aller Bemühungen um Raumtransformationen hängt neben dem Eingang ein Schild, das die Sanitärräume in das binäre Geschlechtersystem aufteilt. Von einer vollständigen Umstrukturierung oder Eroberung des Universitätsraums kann folglich kaum die Rede sein. Dies bedeutet nicht, dass solche subversiven Eingriffe das alltägliche Leben an der Hochschule nicht bereichern können oder dazu beitragen, das vorherrschende Machtgefälle zu destabilisieren. Jedoch kann es im Licht meiner Betrachtung nicht als Überwindung des gegebenen Raums betrachtet werden; vielmehr als ein Verhandeln mit diesem.
Womöglich wäre ein dritter Ort, sprich: ein Ort ohne Verbindung zur Bildungsstätte, zu Arbeit oder Familie passender als Veranstaltungsort des Symposiums gewesen. Ein Raum, der unbefangen ist von hartnäckigen vorherigen Eindrücken und sich auf diese Weise durch den Austausch gestalten lässt. Ein Raum der Gestaltungsfreiheit bietet.
Die Teilnahme am Symposium Unlearning University hat mir ermöglicht, die komplexe Beziehung zwischen Raum und Machtstrukturen zu untersuchen. Dabei musste ich feststellen, dass keine der Rauminterventionen, die im Zuge der Tagung installiert wurden, die vorhandenen Räume grundlegend transformieren und somit keine neue, unbeschwerte Lernumgebung schaffen konnte. Ich möchte mich an dieser Stelle auf die Philosophin und Professorin an der Akademie der bildenden Künste Wien, Ruth Sonderegger, beziehen, die ihre Präsentation mit einem Zitat von Sharon Stein beendete, welche den Prozess des Wandels hin zu einer ethischeren Institution als „hospicing“7Stein, Sharon et al.: „Gesturing Towards Decolonial Futures: Reflections on Our Learnings Thus Far.“ Nordic Journal of Comparative and International Education (NJCIE), Bd. 4, Nr. 1, S. … Mehr anzeigen, also als eine Art Sterbehilfe, beschreibt. Ein möglichst sanftes Ende, das Platz für Neues schafft. Mir ist klar geworden, dass dies gleichermaßen für die physischen Räume der Institution gilt. Nicht ohne Grund sagen wir, dass wir aus Verhaltensmustern ausbrechen müssen, wenn wir sie ändern wollen. Veränderung (bzw. Fortbestehen) hat, wie beschrieben, eine räumliche Komponente. Wenn wir hin zu etwas Neuem wollen, dann müssen wir auch in neue Umgebungen eintauchen. Es ist erforderlich die Räume zu ändern, in denen wir lernen, und das grundlegend.
Referenzen
1 | Vögele, Sophie / Saner, Philippe (Hg.): Art.School.Differences., Zürich 2022 |
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2 | DiMaggio, Paul: „Classification in Art.“, in: American Sociological Review, Bd. 52, Nr. 4, 1987, S.440–455. |
3 | Lefebvre, Henri: The Production of Space, Oxford 1991 [zuerst Paris 1974], S.143 |
4 | Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und Phänomenologischen Philoso- phie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution (ca. 1913) in: Husserliana Bd. IV, hg. von Marly Biemel, Den Haag 1952, S. 146f. |
5 | Ahmed, Sara: Queer Phenomenology: Orientations, Objects, Others, New York 2006, S. 59 |
6 | Durch das Gebäudemanagement wurden inzwischen professionell gestaltete Piktogramme angebracht. Das Leitsystem weist aber immer noch ausschließlich binäre WCs aus; es bleibt eine ewige Transition. |
7 | Stein, Sharon et al.: „Gesturing Towards Decolonial Futures: Reflections on Our Learnings Thus Far.“ Nordic Journal of Comparative and International Education (NJCIE), Bd. 4, Nr. 1, S. 43–65. |