#MeToo Machtmissbrauch im Theater – und dann?

Verschriftlichte Momentaufnahme vom 11. Juni 2021
Wir danken Anna Bergel für die Einladung zu diesem Beitrag und die Erstredaktion des Textes.

Feministische Held*innen an der Volksbühne Berlin, Emanzipationshilfe von außen und der institutionelle Wandel in den deutschen Stadttheatern

Seit 2014 ist ein rasanter Anstieg der Verwendungshäufigkeit des Begriffs „Machtmissbrauch“ in der deutschen Presse zu beobachten – abzulesen in einer sogenannten Wortverlaufskurve für den Zeitraum von 1946 bis 2021 im deutschen Zeitungskorpus. Und auch 2021 zeichnet sich kein Ende der neuen Popularität des Begriffs ab. Forscher*innen wie Naika Foroutan, Aladin El-Mafaalani und andere legen nahe, dass es heute nicht unbedingt mehr Machtmissbrauch als früher gäbe, sondern dass sich das gesellschaftliche Bewusstsein dafür geschärft hat. Bestimmte Verhaltensweisen von Autoritäts- oder Führungspersonen werden heute kritischer bewertet bzw. vor allem auch öffentlich kritisiert. Wir sehen zudem, dass es ein relativ klares Bewusstsein dafür gibt, dass diejenigen, denen Machtmissbrauch vorgeworfen wird, ihr Amt an dieser Stelle nicht mehr weiter ausführen sollten. Aber – und hier sieht es bisher noch wenig erfreulich aus – was passiert mit denen, die es gewagt haben, den Missbrauch öffentlich zu machen? 

„Machtmissbrauch“ ist definitiv kein Phänomen, das allein in staatlich finanzierten Theatern anzutreffen wäre; viele gesellschaftliche Institutionen, aber auch Wirtschaftsunternehmen sind betroffen, oder die Institution Familie. Allerdings scheint es fast, als sei „Machtmissbrauch“ in jüngeren Theaterdiskursen der am häufigsten verwendete Begriff seit Veröffentlichung von Thomas Schmidts heftig debattierter Studie Macht und Struktur im Theater. Asymmetrien der Macht im Herbst 2019 – tatsächlich aber nicht erst seitdem. 

In seiner nachtkritik.de-Kolumne „Das Ende der Ausreden“ riet Dirk Pilz bereits im Februar 2018 dem Bühnenverein, sich endlich der lange bekannten und öffentlich diskutierten (Machtmissbrauchs-)Probleme in den Theatern anzunehmen:

„Diesmal zu #MeToo, zum Theater und den Folgen, noch einmal. Es muss sein. Es wird ja eifrig diskutiert in Theaterkreisen derzeit. Dieter Wedel, Matthias Hartmann, die vielen verstreuten Aussagen, Interviews, Statements über Machtmissbrauch an den Theatern: Jeder Fall will eigens betrachtet werden, Vorverurteilungen sind so verwerflich wie Vergröberungen, sicher. Aber es ist keine Frage der Debatte, dass es erstens ein immenses Problem mit Machtmissbrauch an den Theatern gibt und dieses zweitens durch nichts zu rechtfertigen ist.“

Das nur als ein Beispiel von so vielen Texten und Berichten, die wieder und wieder und wieder auf die vielfältigen und miteinander verflochtenen Probleme innerhalb der staatlich finanzierten Produktionsbetriebe aufmerksam gemacht haben. Und auch immer wieder darauf, dass nicht allein Sexismus und die strukturelle Benachteiligung von Frauen im Theater oder aber Rassismus und die Exklusion von nichtweißen Menschen (und vieler anderer) und auch nicht einzelne „Macht missbrauchende“ Theaterleitungen als Problem zu identifizieren sind, sondern ein ganzes System. Ein System der staatlich finanzierten Produktion dessen, was wir ‚Theater‘ nennen oder ‚Kunst‘ oder ‚Abendunterhaltung‘ oder ‚kulturelle Bildung‘ oder einen ‚Möglichkeitsraum der Demokratie‘. 

Wo also ansetzen mit der Kritik zur Veränderung der Theaterbetriebe, in denen in den meisten Fällen dieselben Machtverhältnisse und Prinzipien herrschen, wie in anderen Bereichen unserer deutschen bzw. europäischen Gesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts? Auch hier wird – sehr grob gesagt – weißen Männern aus der Mittelschicht – besonders in der Rolle als Führungskraft oder Regiekünstler – schon per se eine andere Kompetenz unterstellt als Frauen*1. Auch hier wird vor allem Leistungsbereitschaft geschätzt, herrscht Konkurrenz zwischen den Theaterschaffenden und wird der Erfolg der Arbeit in Zahlen (Produktionen pro Spielzeit, Anzahl der verkauften Tickets, Höhe der Eigeneinnahmen des Theaters und Fähigkeiten zum Umgang mit Etateinsparungen etc.) gemessen. Anders als im Fall eines privatwirtschaftlichen Unternehmens geht es allerdings tatsächlich nicht um privaten Kapitalgewinn: Wenn eine Stadt bzw. Kommune vielleicht Dank ihres Theaters die eigene kulturelle Anziehungskraft erhöht und für Tourist*innen und Unternehmen mit gut qualifizierten Arbeitskräften besonders attraktiv wird, kommen diese zusätzlichen Steuereinnahmen auch wieder der Stadt oder Kommune zugute. Soweit jedenfalls die Theorie. 

In der Theorie ist schließlich auch vorgesehen, dass es sich bei den öffentlichen Theatern um Orte der Demokratie handelt und verschiedene Menschen hier gemeinsam miteinander Kunst produzieren und andere Menschen einladen, diese Kunst in Form von Aufführungen anzusehen, mitzugestalten und dabei über sich selbst, das gesellschaftliche Leben, politische und philosophische Fragen zu reflektieren. Dabei haben Theatermacher*innen und Publikum (mindestens) einen persönlichen Gewinn, so die Idee, auch wenn Anstrengung und Überforderung durchaus dabei sein dürfen. – Wie kommt es nun zur guten Praxis dieser Ideen?

Zuallererst müssen Probleme überhaupt von Betroffenen – d. h. hier: Theatermitarbeiter*innen – selbst bemerkt und benannt werden – dabei hilft die öffentliche Thematisierung bislang tabuisierter Missstände, die eine kritische Spiegelung der eigenen Situation erleichtert, ein Wiedererkennen und Bemerken von Mustern.2018 veröffentlichten Mitarbeiter*innen des Burgtheaters Wien einen offenen Brief gegen Ex-Intendanten Matthias Hartmann (der war bereits 2014 entlassen worden); es gab im selben Jahr auch einen offenen Brief an Ex-Intendanten Castorf wegen dessen sexistischer Äußerungen (der Brief stammte allerdings nicht von früheren Mitarbeiter*innen); 2019 kamen die Vorfälle rassistischer Beleidigungen am Theater an der Parkaue in die Presse (in Folge Intendanzabgang „aus persönlichen Gründen“); 2020 wurden die Vorwürfe zum als „toxisch“ bezeichneten Führungsstil des Generalintendanten Peter Spuhler in Karlsruhe publik (und nach vielen Monaten die Abberufung des Intendanten beschlossen). 2021 folgten Sexismus-Vorwürfe an den Interimsintendanten der Volksbühne (er trat zurück – sowieso nur wenige Monate vor Ablauf seines Vertrags); Rassismus-Vorwürfe am Schauspielhaus Düsseldorf wurden laut (das Haus versucht sich jetzt intern zu erneuern) und zuletzt wurde Gorki-Intendantin Shermin Langhoff Machtmissbrauch vorgeworfen (es ist noch unklar, was passieren wird – oder vielmehr: nicht). Hier handelt es sich nur um eine Auswahl der bekanntesten Fälle der Kritik an Intendant*innen (und Regisseur*innen) allein im Bereich des Schauspiels in letzter Zeit.

Aber dürfen diese Beispiele und die sie begleitenden öffentlichen Debatten und von Theaterschaffenden miteinander geführten Diskussionen jetzt zu der Annahme führen, es würde tatsächlich nach und nach aufgeräumt mit den übergriffigen Führungskräften im deutschen Stadttheater? Mit Sexismus und Rassismus und der Angst, sich als abhängig beschäftigte*r Angestellte*r oder beauftragte*r Gastkünstler*in gegen schlechte bis unerträgliche Arbeitsbedingungen zur Wehr zu setzen?

Im Hinblick auf das Ausmaß der unter Theaterschaffenden bekannten Fälle von Machtmissbrauch und Übergriffigkeit kam es nur zu sehr wenigen Intendanzwechseln. Und es kam in diesem Zusammenhang bisher vor allem auch noch zu keinem Versuch, mit einer neu gedachten Leitungs- und Organisationsform innerhalb eines deutschen Stadttheaters andere Machtverhältnisse nachhaltig zu institutionalisieren oder andere Machtverhältnisse sich durch andere strukturelle Voraussetzungen entwickeln zu lassen. 

Es wurden zwar durchaus Forderungen nach neuen demokratischeren Organisationsmodellen und kollektiveren Leitungsstrukturen für die öffentlich finanzierten Theater laut, es wurde – pandemiebedingt vor allem online – miteinander gelernt und diskutiert. In vielen Theatern, aber auch organisiert durch solidarische, alle Theaterschaffenden ansprechende Netzwerke wie etwa das bundesweite ensemble-netzwerk e.V. mit seinen vielen Schwestern-Netzwerken oder durch andere ehrenamtlich Engagierte – auch Nichttheaterschaffende, wie sie im Berliner Kollektiv Staub zu Glitzer versammelt sind – haben Veränderungsprozesse begonnen, die vor allem für bessere oder überhaupt erträgliche Arbeitsbedingungen eintreten. 

Ist also alles auf einem guten Weg, eine kritische Masse veränderungswilliger Theatermacher*innen erreicht? Anlass zur Hoffnung besteht sicherlich, zur Entspannung allerdings nicht. Vor allem wurden die konkret betroffenen Mitarbeiter*innen bislang in aller Regel vergessen, sie bleiben mit den gesundheitlichen, sozialen und – infolge von Kündigung – auch den finanziellen Folgen toxischer und Angst machender Arbeitsbedingungen auf sich gestellt.


Wie kam es zum Bekanntwerden des #MeToo-Moments an der Volksbühne Berlin? Ein Protokoll von Sarah Waterfeld – mit Anmerkungen von Anna Volkland

Wir fragen im folgenden Beitrag nach einem konkreten Fall der Öffentlichmachung von Machtmissbrauch, Diskriminierung und sexueller Belästigung von Mitarbeiterinnen – nämlich an der Volksbühne Berlin während der Interimsleitung von Klaus Dörr. Es handelte sich um einen Zeitraum zwischen der Kündigung des in Berlin kaum akzeptierten neuen Theaterchefs Chris Dercon ab Frühjahr 2018 und dem Start der nächsten neuen Leitung von René Pollesch ab Sommer 2021. Dörr, der nur noch wenige Monate im Amt gewesen wäre, ist am 15. März 2021 überraschend schnell zurückgetreten nach dem Bekanntwerden verschiedenener, vor allem weibliche Mitarbeiterinnen betreffende Vorwürfe ihm gegenüber. 

„Mal, so erzählen es die Frauen, die mit der taz gesprochen haben, sei da ein Streicheln über den Arm gewesen, mal bleibe die Hand auffällig lang auf der Schulter oder an der Taille liegen. Vor allem aber funktioniere Dörrs Übergriffigkeit über stierende Blicke auf Brust und Beine, durch sexistische Witze und Kommentare. Und dann sind da noch die SMS, von denen ein großer Teil der Frauen zu berichten weiß. Sie kämen spät abends, Berufliches und Privates seien darin vermischt.“
(Viktoria Morasch im ausführlichen Bericht in der tageszeitung die taz vom 13.03.2021, hier vollständig nachzulesen)

Seitdem ist die Stille aus dem Haus am Rosa-Luxemburg-Platz sehr laut. Was genau passierte nach den öffentlichen Debatten in verschiedenen überregionalen Zeitungen, Radio- und Fernsehprogrammen im Frühjahr 2021?

Die Berliner Autorin SARAH WATERFELD, seit 2017 Sprecherin des Kollektivs Staub zu Glitzer, schildert aus ihrer Perspektive als begleitende Aktivistin und Künstlerin, wie es überhaupt dazu kam, dass Mitarbeiterinnen der Volksbühne sich zusammenfanden und sich Hilfe holten, welche Rolle die Unterstützung von außen spielte, welche Schwierigkeiten und Mängel im Opferschutz sich aber auch zeigten – Probleme, über die bisher noch nicht öffentlich gesprochen wurde.
Sarah Waterfelds Bericht wird durch in das Protokoll hineinmontierte reflektierende Rahmungen und Einschübe der Dramaturgin ANNA VOLKLAND ergänzt, die von 2014 bis 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der UdK Berlin gewesen ist und seitdem zur Geschichte der Institutionskritik im deutschen Stadttheater und ihren Formen in der Gegenwart forscht, das heißt, auch zu den selbst- und machtkritischen Demokratisierungsbestrebungen, die von den Theaterschaffenden selbst ausgingen und -gehen.

Sarah Waterfeld

Es befremdet mich sehr, wie in der Öffentlichkeit mit dem #Metoo-Skandal an der Volksbühne umgegangen wird. Interessiert es denn niemanden, wie der Aufarbeitungsprozess im Haus abläuft? Wie die Mediator*innen vorgehen? Werden die Opfer des Machtmissbrauchs gut betreut? Wie geht es ihnen heute? Haben sie alle noch einen Job? Was hat es zu bedeuten, wenn die aktuelle Interimsintendantin Sabine Zielke in ihrem ersten größeren Interview, nach einem Sexismus-Skandal an ihrem Haus sagt, sie sei keine Feministin? Wie haben wir uns das vorzustellen? Sie wünscht sich keine Gleichberechtigung aller Geschlechter, sondern verteidigt das Patriarchat? What the hell!? 

In meinen Augen sind die Frauen, die sich zu der Beschwerde gegen Dörr durchgerungen haben, feministische Held*innen.

Aber um sich zur Wehr zu setzen, brauchten sie auch den Impuls von außen. Vielleicht erzähle ich von vorne, denn insgesamt hatte ich fast ein Jahr mit der ‚Causa Klaus Dörr‘ zu tun. Im April 2020 organisierte unser Kollektiv – Staub zu Glitzer – im Bündnis mit 25 anderen Gruppen die Gegenproteste zu den neurechten Hygienedemos auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. In diesem Zusammenhang hörte ich zum ersten Mal von den Anschuldigungen gegen den Interimsintendanten. Ende Juni fand ein erstes Treffen statt mit mehreren Frauen, die Vorkommnisse beschrieben oder bezeugten. 

Mitte Juli dann trafen Betroffene – auf mein Insistieren hin – mit mir zusammen eine Vertrauensperson aus dem Kultursenat. Das ist ein wichtiger Punkt, den Die Welt später versuchte zu skandalisieren. Das ist natürlich albern, denn unentwegt finden informelle Gespräche statt, die folgenlos bleiben können. Inwiefern solche Gespräche dann in eine formelle Ebene überführt werden, entscheiden die Beteiligten und da spielen Emotionen eine große Rolle. Gleichzeitig kann ein Kultursenator nicht jedem Fall oder Gerücht nachgehen, das in privatem Rahmen mit Mitarbeiter*innen besprochen wurde. Das ginge theoretisch schon – dann bräuchte es aber wesentlich mehr Personal.  

Bei einem Beschwerdeverfahren gegen den Leiter einer staatlichen Institution braucht es mehr als nur einen anekdotenhaften Plausch, bei dem sich alle Diskretion versprechen. Der Plausch allerdings ist gut für die Psyche. Dieses erste Treffen war sehr wichtig für uns, da wir ermutigt wurden, weiterzugehen. Wir bekamen das klare Signal: Ihr seid nicht allein und es ist völlig richtig, dass niemand weiter ertragen sollte, was am Haus vor sich geht. Selbstverständlich kann jede*r Bürger*in im Kultursenat anrufen oder eine Mail schreiben und von Missständen berichten. Das reicht nur eben nicht aus. Betroffene müssen sich organisieren. Sich dafür mit Menschen zu beraten, die eine gewisse Erfahrung haben mit aktivistischer Arbeit, ist sicherlich hilfreich. 

Seit Dörrs Rücktritt habe ich schon mit mehreren Betroffenen anderer Institutionen gesprochen, die sich wegen der Zeitungsinterviews oder unserer Pressemitteilung in sozialen Medien meldeten (etwa hier, hier und hier); ich habe ihnen Tipps geben können und Kontakte zur Presse vermittelt. Die Emanzipation im Kunst- und Theaterbereich fängt ja gerade erst an. 

ANNA VOLKLAND – „EMANZIPATION“

Emanzipation ist ein wichtiges Stichwort linker Bewegungen, auch schon unter jungen, institutionskritischen Theaterschaffenden der späten 1960er Jahre in der BRD, das heißt, neu ist es nicht. Heute ist das Stichwort „Emanzipation“ oder „Selbstbewusstsein“ von Theaterschaffenden vor allem mit dem ensemble-netzwerk e.V. verknüpft und die Verwendung ist durchaus eine etwas andere als vor über 50 Jahren: Theaterschaffende, vor allem Schauspieler*innen und andere abhängig am Theater Beschäftigte (künstlerisch Mitarbeitende) wenden sich damit gegen schlechte Arbeitsbedingungen und eine oftmals fehlende demokratische Kultur im Theater, die Gespräche auf Augenhöhe verunmöglicht und die nur sehr wenigen künstlerische Selbstverwirklichung verspricht (etwa bestimmten „Star“-Regisseur*innen).

Sehr vielen Theaterschaffenden wird dagegen das engagierte Mitmachen und Schweigen nahelegt, wenn sie nicht mit „künstlerischem Liebesentzug“ durch die Regie oder Theaterleitung oder mit einer Nichtvertragsverlängerung bzw. der Nichteinladung durch die Intendanz bestraft werden wollen.

Das war zuerst durchaus auch die Perspektive der Schauspieler*innen, die beispielsweise 1969 anlässlich der Inszenierung des scheinbar wohlbekannten Goethe-Dramas „Torquato Tasso“ – und der Identifikation mit dem von seinem adeligen Mäzen in jeder Hinsicht abhängigen Dichters Tasso – erstmals anfingen, die eigene Unfreiheit zu erkennen. Die Schauspielerin Edith Clever bemerkte damals dazu im Programmheft:

„Die meisten Schauspieler […] haben ständig Existenzangst. Sie müssen ankommen. Beim Publikum, beim Regisseur, beim Intendanten, bei Kollegen etc. – Will er [sic] eine Rolle nicht spielen, wird er bestenfalls mit dem Argument gezwungen, er solle fürs Haus denken wie ein Intendant. Zur Spielplanbesprechung wird er nicht hinzugezogen. Und selbst Kostüme werden aufgezwungen, wenn der Regisseur es für richtig hält. So träumt jeder Schauspieler davon, einmal Star zu werden, um mehr Rechte zu bekommen. Das heißt, er will Macht.“1Clever zitiert nach Erich Emigholz, „30 Fragen zum Bremer ‚Tasso‘“, in: Canaris Goethe u. a.: Torquato Tasso, S. 150 f.

Durch die „Tasso“-Arbeit habe Clever begriffen, „daß diese Zustände veränderbar sind, daß es nicht zwangsläufig so sein muß“.2Ebd., S. 151. (Mehr dazu hier.)

Im wenige Monate später 1969/70 in Zürich von Bruno Ganz, Günther Lampe, Jutta Lampe, Rita Lesha, Rüdiger Kirschstein und Tilo Prücker „auf Anregung von Peter Stein“ (d.h. des Regisseurs auch der „Tasso“-Inszenierung) verfassten Gründungsmanifest der als ‚Mitbestimmungstheater‘ gedachten Schaubühne am Halleschen Ufer in Westberlin wird der Emanzipationswille dann bereits als Sehnsucht nach der Überwindung des eigenen „bürgerlichen Individualismus“ gefasst:

„Die Arbeit im herkömmlichen Theaterapparat bietet uns außer ‚Jobbertum‘ keine Perspektiven. Möglichkeiten, zu anderen Formen der Organisation und Arbeit zu gelangen, bietet uns die Schaubühne Berlin. Unsere Erfahrungen in Zürich […] zeigen, daß kollektive Arbeit nur möglich ist, wenn die Interessen der Produzierenden grundsätzlich übereinstimmen. Um diesen ‚Konsens’ im Ensemble zu fördern, dieses Papier: Wir betrachten Theater als ein Mittel zu unserer Emanzipation. Wir wollen versuchen, als bürgerliche Schauspieler unseren bürgerlichen Individualismus durch kollektive Arbeit am Theater zu überwinden, um sozial wirksam zu werden […].“3Zitiert nach Roswitha Schieber: Peter Stein. Ein Protrait, Berlin 2005, S. 93f.

Das ist hier nicht zitiert, um zu sagen, dass die damaligen politischen Ideen in dieser Form heute fehlen würden – tatsächlich ist vieles an der damaligen Theorie und Praxis zu kritisieren, allerdings lohnt die Auseinandersetzung damit. Es bestehen heute sicher für die nachhaltige emanzipatorische Arbeit ganz andere Herausforderungen als damals – vor allem, wenn wir sehen, dass heute der Anlass zur Emanzipation erst (oder schon) der erlittene Übergriff im Sinne eines juristischen Tatbestandes ist – zum Beispiel erkennbar als Sexismus – und dass jenseits solcher Übergriffe und Belästigungen keine grundsätzlichen Probleme für das Arbeiten innerhalb eines oft hierarchisch strukturierten Betriebs gesehen werden. Wenn in jedem Fall akzeptiert wird, dass Regie und Intendanz immer das letzte Entscheidungsrecht haben und hierbei über andere Körper und Ideen urteilen können, dann ist es schwerer, Diskriminierungen und Abwertungen etwa in Probenprozessen als soziales und künstlerisches Problem zu markieren.   

Emanzipation von Theaterschaffenden bedeutet, sich Wissen über die eigenen Rechte als Arbeitnehmer*in anzueignen und für diese Rechte solidarisch mit anderen Kolleg*innen und anderen Berufsgruppen einzutreten. Es gilt auch, Arbeit als solche zu benennen und nicht lediglich von Kunst und Liebe zu sprechen, da tatsächlich alle Körper – sogar die kunstliebendsten – auch materielle sowie Ruhe- und Schutzbedürfnisse haben. (Wer es als Akt der künstlerischen Freiheit ansieht, sich selbst zu schädigen, darf das tun, aber niemand sollte von Anderen – wie indirekt auch immer – dazu aufgefordert werden.) Außerdem brauchen alle eine Anerkennung für ihre Arbeit und Mitarbeit, auch diejenigen, denen nicht öffentlich applaudiert wird (das betrifft einen Großteil der Theatermitarbeiter*innen), und alle – von den Ausstattungsassistent*innen über die Techniker*innen bis zum Kassenpersonal – brauchen die Möglichkeit, ihre Ideen, Erfahrungen und Kritikpunkte einbringen zu können. Kritik zu äußern, sollte als konstruktive Mitarbeit begrüßt werden – und niemand, auch nicht die Vorgesetzten, sollten sich davor fürchten. Emanzipierte Theaterschaffende sind die, die nicht mehr „unter“ einer Intendanz arbeiten, sondern mit Kolleg*innen. Es sind die, die auf viele verschiedene Ideen von Kunst und Theater und Wirklichkeit neugierig sein können – auch hier ohne Angst, nicht ‚auf der richtigen Seite‘ zu stehen. (Das heißt, rechte Gesinnungen sind von dieser Vielfalt ausgeschlossen, denn hier dominieren starre Vorstellungen von ‚richtig‘ und ‚falsch‘.)

SARAH WATERFELD

Wir haben schon sehr früh Kontakt zu Journalist*innen aufgenommen. Allen Betroffenen kann ich nur raten, möglichst früh die Presse als vierte Gewalt im Staat einzuschalten, Menschen mit Erfahrungen und kurzem Draht zu Jurist*innen. Auch das ist nicht nur eine praktische, sondern auch eine emotionale Stütze, da es den Kreis an erfahrenen, gleichzeitig aber diskreten Gesprächspartner*innen erweitert. Strategien können abgewogenen werden, Argumente überprüft. Dafür braucht es auch nicht das Einverständnis von Themis, der Vertrauensstelle gegen sexuelle Gewalt und Belästigung e.V., mit der die betroffenen Frauen später zusammenarbeiteten. Ich erwähne das, da auf der Themis-Homepage seit dem ‚Fall Dörr‘ eine Erklärung zu finden ist, in der betont wird, dass sie keine Unterlagen an Journalist*innen weitergeben. Soweit ich weiß, hat dies auch niemand behauptet. Später hat auch der Arbeits- und Medienrechtler, der unser Kollektiv seit Jahren betreut, Teile der Frauen beraten. 

Trotzdem vergingen wieder Monate, bis sich die Betroffenen soweit organisiert hatten, dass sich alle gemeinsam in einem Online-Meeting mit der Beschwerdestelle Themis versammelten und auch gemeinsam eine junge Filmemacherin online trafen, die uns inzwischen vermittelt worden war. Zuvor hatte es schon ein Präsenz-Treffen in kleinem Kreis gegeben mit dieser Journalistin, die einen wichtigen Teil der Recherchearbeit im ‚Fall Dörr‘ geleistet hat und für einen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender arbeitet. Das war Anfang November. Doch mit den Wochen zeichnete sich ab, dass die meisten betroffenen Frauen nicht den Mut aufbrachten, ihre Geschichte in einem Beitrag im Fernsehen zu erzählen oder erzählt zu sehen. Ihnen wurde vollständige Anonymisierung angeboten, die Möglichkeit, Begebenheiten mit Comics nachzustellen oder ein Interview vor der Kulisse einer anderen Stadt und verfremdet. Allerdings hätte es auch mehrere Frauen geben müssen, die mit Klarnamen auftreten. Das wollten die Allermeisten nicht. 

Ich muss hier noch einmal klarstellen: Auch wenn Geschichten anonymisiert veröffentlicht werden, müssen selbstverständlich die Journalist*innen und Justiziar*innen des jeweiligen Mediums die Namen kennen und auch eidesstattliche Erklärungen einholen, wenn es keine anderen Beweise gibt, wie zum Beispiel Screenshots von SMS, Zeug*innen usw.

Auch muss der Beschuldigte oder die Beschuldigte rechtzeitig über den anstehenden Bericht informiert werden. Klaus Dörr hat also vor Veröffentlichung der Artikel in der tageszeitung (taz), zuerst am 12. und dann noch einmal ausführlich in der Wochenendausgabe am 13./14. März 2021, einen Fragenkatalog erhalten und hatte die Möglichkeit, per einstweiliger Verfügung gegen die Artikel vorzugehen. Für diesen Fall hätte die Zeitung dann dem Gericht die Beweislage präsentieren müssen. Es entscheiden also bei jeder einzelnen Formulierung die Justiziar*innen der Zeitung, ob sie so in Ordnung bzw. juristisch wasserdicht ist. 

Es wurden dann von allen Betroffenen der Volksbühne schriftliche Berichte bei Themis eingereicht. Berichte von Opfern anderer Theater, an denen Dörr arbeitete, wollte Themis nicht, da sie nur für aktuelle Arbeitsverhältnisse zuständig sind. Die Verschriftlichung der Erlebnisse ist eine große Hürde, finde ich, sich festlegen müssen auf eine bestimmte Formulierung. Es macht einen Unterschied, ob ich schreibe, jemand sei einen Schritt auf mich zugegangen, oder jemand habe mich bedrängt. Mit dieser Aufgabe waren die Betroffenen allein. 

Themis hat dann auf Grundlage der eingereichten schriftlichen Berichte einen Beschwerdebrief verfasst. Die Frauen hatten die Gelegenheit zur Korrektur und nahmen diese auch wahr. Nur drei Tage nach Übermittlung des Briefs an den Kultursenat gab es ein Online-Meeting mit den betroffenen Frauen, Themis und vier Vertreter*innen des Senats, inklusive dem Kultursenator. Für manche war das sehr nervenaufreibend und beängstigend. Immerhin hatte der Kultursenator den Intendanten ja eingestellt und nachgerade als Retter der Volksbühne ausgewiesen nach Dercons Kündigung. 

In dem Online-Meeting sollten die Frauen dann in der Gruppe ihre Erlebnisse schildern. Ich muss leider sagen – mit Safer Space und Opferschutz hatte das nichts zu tun.

Aber Themis hat an diesem Verfahren keinen Anstoß genommen, das hat mich befremdet. Überhaupt niemand in diesem Gespräch hat das Format und das Setting explizit in Frage gestellt. Die Frauen, die mir davon berichteten, hatten unterschiedliche Meinungen dazu. Es wurde teilweise als beruhigend empfunden, in so einer großen Gruppe nur eine von vielen zu sein. Andere sahen es so wie ich, wollten aber nicht anecken mit einer Beschwerde darüber. 

Ich hatte eigentlich erwartet, dass die Frauen einzeln und – gegebenenfalls in Begleitung einer psychologischen Betreuung – mit einer Anwältin oder einem Anwalt vertraulich sprechen können. 

Die schriftlichen Berichte der Frauen gingen dann im Anschluss an dieses Meeting auch an den Kultursenat. Es tut mir leid, dass ich das hier kritisieren muss, aber mir ist die Leistung von Themis nicht ganz klar. Sie haben einen Beschwerdebrief formuliert anhand der schriftlichen Berichte, die dann aber auch direkt an den Senat gingen. Formaljuristisch hat dieser Brief, formuliert von der Mitarbeiterin eines privaten Vereins, nicht mehr Gewicht als ein Brief, den die Frauen selbst verfasst und verschickt hätten. Das Verfahren hat vor allem Zeit in Anspruch genommen, Zeit, in der immer wieder auf die Ängste und Zweifel der Frauen, die mit jeder Woche zunahmen, eingegangen werden musste. 

Es ist laut Themis wohl so, dass nur 3 % aller Betroffenen, die sich an die Vertrauensstelle wenden, auch wollen, dass ihr*e Arbeitgeber*in davon erfährt. Dieses Verhältnis sollte uns alarmieren und verweist doch auch darauf, dass noch einmal grundsätzlich über die Verfahrensweise bei Beschwerden wegen sexueller Belästigung und Gewalt in der Theaterbranche (und sicher auch bei Film und Fernsehen und anderswo) nachgedacht werden muss. Der beschuldigte Intendant Dörr war ja noch am Haus, es fanden Meetings mit ihm statt usw. 

Die Frauen organisierten sich im Grunde konspirativ – und das musst du nervlich als Betroffene erst einmal durchstehen. Die Aussage – „ich habe solche Angst, der hat solche Macht“ – habe ich in dem halben Jahr vor dem Rücktritt etwa 2000 Mal gehört. Ich will damit sagen, dass es ein noch sehr viel besseres Verfahren für solche Machtmissbrauchsfälle geben muss. Da muss sehr viel mehr Geld in die Hand genommen werden, damit nicht nur Opferschutz gewährleistet ist, sondern auch eine adäquate Betreuung der Betroffenen und Traumatisierten stattfindet. 

Dann ist natürlich das Konkurrenzsystem an Theatern und insgesamt in unserer Gesellschaft ein Problem für kollektives emanzipatorisches Handeln. Im taz-Artikel stand der Satz: „Die Frauen sind keine Freundinnen.“ Nun, das ist eine Beschönigung. Es gab Betroffene, die wollten, dass Themis in einer Mail an den Kultursenat formuliert, dass keine Kündigung des Beschuldigten gewollt ist. Am Ende haben sich glücklicherweise diejenigen durchgesetzt, die so einer Aussage nicht zustimmten. Der Satz wurde gestrichen. Für mich persönlich war das schon seltsam. Frauen beschweren sich wegen sexueller Belästigung und wollen aber schriftlich festgehalten wissen, dass sie sich ein Fortwirken des Belästigers wünschen. Ich denke, es geschah aus Angst. Falls er nicht gehen muss und weiterhin im Theaterbetrieb relevant bleibt. 

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Anna Volkland – „BEZIEHUNGEN“

Worin wurzelt diese „Macht“ von Theaterchefs, die solche Angst macht? Macht ist keine Eigenschaft einer Person, sondern wird soziologisch als Beziehung zwischen sozialen Akteur*innen beschrieben. Es wurde schon häufiger erklärt, dass ein entscheidendes Problem der Angestelltenverhältnisse in Theaterbetrieben darin liegt, dass es sich hier um ein Berufsfeld handelt, in dem Menschen einander permanent in Bezug auf ihre Qualifiziertheit bzw. eher „Geeignetheit“, ihre „Begabung“ und vor allem persönlichen Passung („die Chemie muss stimmen“) einschätzen bzw. beurteilen. Das heißt, die Kriterien, die über Einstellungen, Einladungen und Wertschätzung (auch ausgedrückt durch Auszeichnungen oder Stipendien etc.) entscheiden, sind in hohem Maße subjektiv und von persönlichen Erfahrungen und Wertmaßstäben geprägt. Anders als in bürokratischen Organisationen sind Zeugnisse oder formale Abschlüsse dagegen weitgehend irrelevant, wenn es darum geht, sich auf dem Arbeitsmarkt Theater positionieren zu wollen, wobei es nicht vollkommen unwichtig ist, an welchen Institutionen (und mit wem) gelernt oder gearbeitet wurde. Es handelt sich um ein Berufsfeld, in dem eine große Mobilität herrscht und Arbeitspartnerschaften wechseln, alle aber permanent im Austausch miteinanderstehen und vor allem: im Austausch über einander. Relevant sind hier die Meinungen und Urteile vor allem derjenigen, die andere engagieren und einladen können: Kurator*innen, Chefdramaturg*innen, bekannte Regisseur*innen etc. – und natürlich Theaterleiter*innen. Die Arbeitssoziolog*innen Axel Haunschildt und Doris Eikhof haben das etwa in ihrem 2004 unter anderem in Theater heute veröffentlichten und immer noch sehr lesenswerten „Forschungsbericht über die Arbeitswelt Theater“ („Haupttitel: „Die Arbeitskraft-Unternehmer“, gemeint waren vor allem Schauspieler*innen) beschrieben. Auch, welcher Stress und welche permanente Notwendigkeit strategischer Kommunikation und strategischer sozialer Interaktion daraus resultiert, während gleichzeitig genau ein Agieren im Sinne von Karriere- oder auch nur Berufsplanung verschleiert wird: Es dominiert immer die Behauptung des „reinen“ gegenseitigen Interesses aneinander – aus Gründen der Freundschaft oder aus Begeisterung für die jeweilige künstlerische Arbeit. Tatsächlich geht es um Arbeitsmöglichkeiten, aber nicht um irgendwelche, sondern um „gute“, die Sinn und Befriedigung eigener künstlerischer Bedürfnisse versprechen – und sei es erst auf lange Sicht, weil jedes Projekt, jeder Kontakt eine Chance bieten, zu einem weiteren Arbeitszusammenhang zu führen.

„Die Überzeugung ‚Gute Leute bekommen auf lange Sicht auch gute Rollen’ leisten sich dabei eher erfolgreichere Schauspieler, die Mehrheit dagegen sieht Engagement- und Besetzungsentscheidungen eindeutig als Resultat sozialer Kontakte und Freundschaften zu Regisseuren, Intendanten, Dramaturgen und anderen Schauspielern.“4Doris Eikhof/Axel Haunschild: „Die Arbeitskraft-Unternehmer. Ein Forschungsbericht über die Arbeitswelt Theater“, in: Theater heute, Heft 3, 2004, S. 4-17, hier S. 8.

Natürlich, auch darauf ist schon häufiger aufmerksam gemacht worden, handelt es sich hier um Phänomene einer neoliberalen Arbeitswelt, die überall dort auftauchen, wo Menschen Selbstverwirklichung (zu der laut Intendant Ulrich Khuon Schmerz dazugehört, wie er im Interview 2004 erklärte)5Franz Wille: „’Auch Schmerz gehört zur Selbstverwirklichung.’ Ein Gespräch […] mit Ulrich Khuon und den Sozialwissenschaftlern Doris Eikhof und Axel Haunschild“, in: Theater heute, März … Mehr anzeigen und Projektarbeit bzw. befristete Verträge miteinander in Einklang zu bringen versuchen. 

Obwohl besonders im Theaterfeld, wie die Soziolog*innen Eikhof und Haunschild beschreiben, alle einander gegenseitig bewerten und auch Theaterleiter*innen ihrerseits unter dem Druck des Beobachtet- und Beurteiltwerdens stehen (durch Presse und Kulturpolitik), haben besonders die Theaterleitungen (aber auch bekannte Regisseur*innen) die Macht, wirksame Drohungen auszusprechen: Wer sich „falsch benimmt“, darf erwarten, eine negative Bewertung (z.B.: „schlechte Künstlerin“, „schwierig“, „inkompetent“ etc.) durch den oder die Vorgesetzte*n zu erfahren – und infolgedessen bald jegliche Reputation innerhalb „der gesamten Theaterwelt“ zu verlieren, so die durchaus glaubhafte Behauptung. Es wird gelernt, die Zähne zusammenzubeißen, „das Spiel mitzuspielen“. Ein Intendant formulierte es kürzlich im Interview mit einer Zeitung achselzuckend wie folgt: „Das ist die Brutalität unseres Jobs. Der ist im wahrsten Sinne des Wortes asozial. Aber alle, die sich darauf einlassen, wissen davon.‘“6Jens Neundorff von Enzberg im Gespräch mit Michael Helbing: „Intendant für Eisenach & Meinungen: ‚Ich bin der falsche Feind’“, in: Thüringer Allgemeine, 28.11.2020, online: … Mehr anzeigen (Es ging um die Gepflogenheit von neu antretenden Theaterleitungen, zuvor große Teile des künstlerischen Personals auszuwechseln, sprich: die Mitarbeiter*innen und das Ensemble aus der Amtsperiode der früheren Leitung aus Gründen der „künstlerischen Erneuerung“ – und weil jede Leitung „eigene“ loyale Angestellte braucht – zu entlassen.) Dieser Merksatz aus der Theaterfolklore bedeutet: Man weiß, dass es in der Theaterwelt hart zugeht – und wer damit nicht zurechtkommt, kann sich einen anderen Beruf suchen. 

Sarah waterfeld

Wir als Kollektiv Staub zu Glitzer jedenfalls und Teile der Betroffenen hatten ursprünglich fest mit einer außerordentlichen Kündigung des Intendanten gerechnet. Die hätte nach BGB §626 innerhalb von zwei Wochen erfolgen müssen. Unsere kleine Gruppe hat es sehr erschüttert, dass Anwält*innen entschieden, dass die vorgebrachten Anschuldigungen nicht für eine fristlose Kündigung reichten. 

Für uns hieß das: So etwas, diese Art der Übergriffigkeit, Diskriminierung und Herabwürdigung darf passieren. Für mich persönlich war das ein Schock. Ich würde gerne das Gutachten der Kanzlei sehen. Es kann natürlich auch sein, dass zuvor anekdotisch vorgetragene Vorwürfe im Zuge der Verschriftlichung dermaßen verwässert wurden, dass die Kanzlei zu gar keinem anderen Schluss gelangen konnte. Auch das interessiert mich, denn ich kenne die schriftlichen Berichte nicht.  

Du sagst also einem Opfer, einer gegebenenfalls traumatisierten, verängstigten Person: Schreib mal alles auf. Aber bedenke, falls der Beschuldigte nachher wegen Rufmord klagt, dann ist dein Bericht schon auch Gegenstand des Gerichtsverfahrens. Und das Gerichtsverfahren ist natürlich öffentlich. Das hören dann alle, vielleicht steht‘s in der Zeitung.  

Ich würde mal sagen, nach so einer Ansage, sind die meisten schon raus. Jede*r Rechtskundige muss das so deutlich formulieren, da es der Realität entspricht. Wir haben das intensiv diskutiert, auch mit unserem Anwalt. Der Opferschutz in unserem Rechtssystem insgesamt ist beschämend. Doch auch eine ordentliche Kündigung Dörrs erfolgte nicht. Wieder vergingen Wochen und wir befürchteten, dass es darauf hinauslaufen könnte, dass die ganze Geschichte vom Kultursenat ausgesessen wird. Danach sah es leider aus, auch, weil wir keinen Einblick in die senatsinternen Vorgänge hatten, sich einfach niemand mehr meldete. 

Auch mit dem Dreh der Reportage konnte nicht begonnen werden, da noch immer nicht genug Frauen bereit waren, daran mitzuwirken. Die Filmemacherin hatte schon monatelang recherchiert und diverse Betroffene aus anderen Städten, von anderen Theatern gesprochen. Am Ende entschieden wir, in kleinem Kreis mit der taz zu sprechen. 

Ich habe dann das erste Gespräch mit der taz-Autorin Viktoria Morasch geführt und noch am selben Tag gab es ein erstens Online-Meeting mit Morasch, in dessen Verlauf ich erst Betroffene davon überzeugen musste, ihre Kamera einzuschalten und ihren Namen zu nennen. Ich möchte hier nochmal ganz klar sagen: Dass meine monatelange Arbeit in dem Artikel mit keiner Silbe erwähnt wird, hat mich schwer enttäuscht. Das ist nicht feministisch. Ich habe im Anschluss noch einmal mit Morasch dazu gesprochen und sie gebeten, das wieder gutzumachen, vielleicht in einem späteren Hintergrundartikel, einem Interview, whatever. Sie hat sich seither nicht gemeldet. 


Anna Volkland – „helfen?“

An dieser Stelle habe ich eine Nachfrage und interveniere ausnahmsweise direkt in Deinen Bericht und spreche Dich direkt an, Sarah: Wie hättest Du Dir gewünscht, dass die Rolle von Staub zu Glitzer oder aber Deine persönliche Rolle im taz-Artikel vom 13. März (oder später) geschildert wird? Es gibt diesen – ich glaube, sehr christlichen – Satz: „Tue Gutes und schweige darüber.“ Der ist vielleicht bei einigen von uns als Moral noch tief verankert. Gleichzeitig ist dieses Schweigensollen natürlich auch ein wenig eigenartig … Ich unterstelle der Journalistin erst einmal gar keine Bösartigkeit, sondern denke, dass es vielleicht auch ein Stück Hilflosigkeit ist, diese Deine/Eure Rolle zu benennen. Es gibt, scheint mir, noch kein Narrativ für diejenigen, die – nicht selbst betroffen und ganz freiwillig – Anderen helfen, sich zu beschweren und sie aktivistisch begleiten. 

Würdest Du Dein/Euer Engagement als zivilgesellschaftliche Courage bezeichnen oder solidarischen Aktivismus oder sogar eher ein – ja journalistisch schon etabliertes – Held*innen-Narrativ verwenden? Letzteres kennen wir eher in Bezug auf Männer, etwa: „Er rannte ins Feuer, die Feuerwehr war noch nicht vor Ort, und rettete – unter eigener Lebensgefahr – das bereits halb ohnmächtige Kleinkind …“ – Wie Du den Fall der Volksbühne beschrieben hast, gab es diese geforderte, sehr schnelle Reaktion, die ein Nachdenken über die eigenen Gefahren tatsächlich unmöglich macht, aber gar nicht – es handelte sich im Gegenteil um einen langwierigen Prozess – und zum anderen war Dein/Euer Leben auch nicht in Gefahr, was aber scheinbar immer wichtig ist für das Narrativ der „selbstlosen Held*innen“ … 

Ich denke, ‚solidarischer Aktivismus’ passt als Begriff am besten, aber gleichzeitig erzeugt das bei Menschen die meisten Fragen nach der Motivation einer solchen Mühe für Andere, von der die Helfer*innen selbst gar nichts zu haben scheinen … Wie würdest Du also die eigene Motivation dieses Engagements beschreiben? 

Sarah Waterfeld

Unser Kollektiv hat sich im Jahr 2017 allein aus dem Grund gegründet, die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz zu reformieren und dafür haben wir viele hunderte Partner*innen gewinnen können, denen wir bis heute eng verbunden sind. Auch seit der Räumung [der durch Dercon angeordneten polizeilichen Beendung der sogenannten Besetzung der Volksbühne im September 2017, A.V.] haben wir nichtmonetär und ehrenamtlich an theater- und stadtpolitischen Themen gearbeitet, haben vier Monate lang ein Containerschiff in der Rummelsburger Bucht besetzt, einen alternativen Volksbühnen-Gipfel veranstaltet und die KeinHausWeniger-Gala im Festsaal Kreuzberg, haben Unterstützer*innenlisten für linke Kulturprojekte erarbeitet und Menschen gewinnen können wie Donna Haraway, Elfriede Jelinek, Frigga Haug usw. 

Für uns ist der Zustand unserer Gesellschaft so alarmierend, dass wir es für unsere Pflicht halten, uns zu engagieren. 

Ich bin damals dem Kollektiv beigetreten, um über den ganzen Prozess schreiben zu können, über „B6112“, unsere transmediale Inszenierung, die häufig als Besetzung bezeichnet wird. Vorher habe ich „transmediale Strategien politischer Intervention“ an der Uni Potsdam gelehrt und hatte schon eine transmediale Romanreihe verfasst. Ich sage das, um klar zu machen: Ich hatte nicht nur als Mitglied von Staub zu Glitzer ein Interesse daran, das Femwashing Dörrs an der Volksbühne zu entlarven – wir haben uns ja von Beginn an öffentlich sehr kritisch zu seinem Programm geäußert. Ich hatte auch als Autorin Interesse an dem Kampf der Frauen in all seinen Details, mit all den Abgründen. Ich beende gerade den Roman zur Sache. Selbstverständlich wissen und wussten das die Frauen, die ich begleitete. Es ist der zweite Teil meiner Volksbühnen-Trilogie. Männer denken übrigens immer, ich mache einen Scherz, wenn ich sage, woran ich arbeite. Sie halten eine Volksbühnen-Trilogie wohl für überambitioniert. Meine Romane komponiere ich nach einer speziellen Poetik der Mimesis 2.0. Es ist demnach transmediale, engagierte und emanzipatorische Literatur. Damit will ich nur sagen, den Frauen zu helfen war nicht nur die reine Selbstlosigkeit, sondern ich war auch als Literatin von Kampfeswillen und Neugierde getrieben. 
Es gab tatsächlich ein, zwei Mal den Punkt, an dem ein Aufgeben im Raum stand und ich habe ganz egoistisch gedacht: Ich will, dass dieser verdammte Roman ein Happy End bekommt, wo doch schon der erste mit einer dramatischen Räumung endet. Es war nicht mein erster Kampf und wird auch nicht mein letzter sein. 

Sarah waterfeld

Als der taz-Artikel dann endlich erschien, nachdem die Filmemacherin, mit der wir monatelang arbeiteten, ihre Rechercheergebnisse mit Morasch geteilt hatte, ließ Dörr verlautbaren, die Vorwürfe seien haltlos. Wir hatten für diesen Fall schon etwa zehn Tage vorher begonnen, Erstunterzeichner*innen für eine Petition, in der der Rücktritt verlangt wurde, in Einzelgesprächen zusammenzusuchen. 

Das hat viel Unruhe verursacht. Es gab dann Personen, die juristisch gegen diese Petition vorgehen wollten. Das ist dann schon nicht mehr nur antifeministisch, das ist schon antidemokratisch. Es steht selbstverständlich jeder Bürger*in frei, gemeinsam mit Erstunterzeichner*innen eine Petition aufzusetzen zu egal welchem Sachverhalt, und anderen steht es frei, diese Petition zu kritisieren oder zu ignorieren oder eine Petition mit gegenteiligem Inhalt zu verfassen, oder sich anders öffentlich zu äußern. 

Die betroffenen Frauen jedenfalls, die auf einem Rücktritt oder einer Kündigung Dörrs bestanden, waren extremem Druck ausgesetzt. Ich habe den allergrößten Respekt vor ihnen. Und ich hoffe, dass sie sich eines Tages so sicher fühlen, wissen, dass sie aufgefangen werden in der Theatercommunity, dass sie öffentlich über das Erlebte sprechen können, um andere zu ermutigen, denselben Weg zu gehen und gegen Machtmissbrauch vorzugehen. Dass sie es heute noch nicht können, ist nicht ihre Schuld. Das liegt an unserer Gesellschaft. 

Die Frage ist doch nicht nur, wie verunmöglichen wir Machtmissbrauch, sondern auch: wie können wir Arbeits-, Wohn- und Lebensräume schaffen, in denen Macht und Verantwortung möglichst gleich verteilt sind, in denen alle als gleichwertige und gleichberechtigte Partizipierende wirken. Theater müssen sich verändern und ich halte „B6112“ aktuell noch immer für den spannendsten Vorschlag in der Debatte. Aber wir werden sehen, was noch kommt.

ANNA VOLKLAND – „WELCHE FREIHEIT?“

Die Auseinandersetzungen um Recht und Unrecht gehen in den verschiedensten gesellschaftlichen Feldern weiter. Im Feld des professionellen Theaterschaffens werden immer wieder Stimmen laut, die meinen, angesichts aktueller Kämpfe für bessere Arbeitsbedingungen und vor allem innerhalb der Stadttheaterlandschaft, an die alten „Weisheiten“ der Theaterfolklore erinnern zu müssen: Theater sei Kunst und Kunst sei kompromisslos und nicht „sozial“, sie dürfe nicht „reguliert“ werden, sie müsse „frei“ sein, rücksichtslos sogar usw.. Bürokratisierung und gar Zensur werden gefürchtet, die letzten unangepassten Großgenies argumentativ in Schutz genommen gegen eine vermeintliche Kleingeistigkeit gutmenschenhafter Theateraktivist*innen. Wie oben schon erwähnt:

‚Wer zu empfindlich ist, ist am Theater falsch‘ – so die Idee. 

Dramaturg Carl Hegemann steht als früherer Mitarbeiter von Frank Castorf und Christoph Schlingensief nicht unbedingt unter Verdacht, zu den vermeintlich empfindlichen Theateraktivist*innen zu gehören. In seinem zuerst 2018 erschienenen und jetzt in seinem neuen Buch Dramaturgie des Daseins, Everday live wieder abgedruckten Aufsatz „Zurück zur Allmacht. Die schönste Zeit im Leben“ erklärt er allerdings, dass die Grenze zwischen Kunst und Leben zwar nicht immer ganz trennscharf zu ziehen sei, gleichzeitig aber ein wichtiger Unterschied zwischen Tyrannei und Freiheit, zwischen Grenzüberschreitungen auf und hinter der Bühne bestehe und letztere auch künstlerisch fraglos kontraproduktiv seien:

„Die ästhetischen Freiheiten des schönen Scheins [nach Schiller] zum politischen Programm zu erklären, um die Welt nach ästhetischen Kategorien zu perfektionieren, ist kein Weg zur Befreiung, sondern der Einbruch totalitärer Gewalt. Gerade im Theater herrscht deshalb ein verschärftes Gewaltverbot. Weil man sich im Spiel auf menschliche Abgründe, auf ungebändigte Natur, auf unwahrscheinliche Sensationen einlässt und das, was einem sonst einfach passiert, autonom produziert, bedarf es großer Sachlichkeit und Nüchternheit bei der Herstellung dieser Kunstwerke. Gewaltexzesse und Psychoterror, Intimität und Verrat auf die Bühne zu bringen, ist leichter, wenn außerhalb der Bühne und bei der Herstellung des Kunstwerks (bei den Proben) Vorsicht und Rücksicht herrschen, auch wenn sich Parallelen zwischen Kunst und Leben nicht immer fein säuberlich trennen lassen. Die Exzesse der Kunst und speziell des Theaters lassen sich nur diszipliniert und möglichst unabhängig von der eigenen Triebstruktur realisieren, das unterscheidet sie strukturell von den Exzessen der Könige, die [Eli] Sagan [in „Tyrannei und Herrschaft“] beschreibt.“7Carl Hegemann: „Zurück zur Allmacht. Die schönste Zeit im Leben“, in ders.: Dramaturgie des Daseins, Everday live, Berlin 2021, S. 54f.

Was hat nun das allem Anschein nach besonders Frauen gegenüber übergriffige und respektlose Verhalten eines Theatermannes wie Klaus Dörr mit irgendwelchen Ideen von Kunstfreiheit zu tun? Richtig, nichts. Dörr ist auch kein Künstler, sondern studierter Wirtschaftswissenschaftler. Das hat ihn sicherlich angreifbarer gemacht als manch anderen, der sich als (meist regieführender) Künstlerintendant versteht und für seine besondere künstlerische Arbeit Anerkennung genießt. Wenn Dörr auf einer Premierenfeier – vor ein paar Jahren schon, noch als Stellvertreter des Intendanten Armin Petras am Schauspiel Stuttgart – etwa einer engen Mitarbeiterin gegenüber feststellt: „Du bist eine scheiß Assistentin, aber jeder will dich ficken.“ (zitiert nach: taz, 13.03.2021), bewegt er sich so eindeutig fern jeder Kunst und innerhalb einer „öden Alltagsrealität“ des männlichen Chauvinismus, dass selbst Bernd Stegemann (der sonst fordert, die Probe dürfe nicht zum korrekten Verwaltungsvorgang werden) kaum widersprechen könnte. Tatsächlich sagen aber auch andere Theatermänner solche Sätze und auch Theaterfrauen in Machtpositionen sind nicht qua Geschlecht „netter“. 

Die (noch) öffentlich finanzierten Theater stehen vor einer ganzen Reihe von Herausforderungen – die klassischen Themen seit Jahrzehnten bestehen immer noch in der strukturellen Unterfinanzierung und im niemals leicht zu gewinnenden Publikum. Die gute Nachricht ist: Kein Verhalten, das dazu gedacht ist, Mitarbeiter*innen einzuschüchtern, zum Schweigen, zum Funktionieren und zum Gehorsam zu bringen, muss von irgendwem akzeptiert werden. Das Verschweigen und Akzeptieren von Übergriffen dient weder der Rettung der Häuser noch der Kunst. 


1 Anm. d. Redaktion: Sprache befindet sich im ständigen Wandel. Die Schreibweisen Frauen* und weiblich* galten zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes als inklusiv für Menschen, die durch Sexismus strukturell benachteiligt werden. Mittlerweile werden diese Bezeichnungen aufgrund ihrer Ungenauigkeit und Reproduktion sexistischer Stereotypen im Antidiskriminierungskontext nicht mehr verwendet. Stattdessen werden Begriffe benutzt, die genauer beschreiben, wer jeweils gemeint ist – z. B. „FLINTA*“. In jüngeren Blog-Texten und Interviews wurde auf die Schreibweise Frauen* und weiblich* deshalb verzichtet.

Referenzen

Referenzen
1 Clever zitiert nach Erich Emigholz, „30 Fragen zum Bremer ‚Tasso‘“, in: Canaris Goethe u. a.: Torquato Tasso, S. 150 f.
2 Ebd., S. 151.
3 Zitiert nach Roswitha Schieber: Peter Stein. Ein Protrait, Berlin 2005, S. 93f.
4 Doris Eikhof/Axel Haunschild: „Die Arbeitskraft-Unternehmer. Ein Forschungsbericht über die Arbeitswelt Theater“, in: Theater heute, Heft 3, 2004, S. 4-17, hier S. 8.
5 Franz Wille: „’Auch Schmerz gehört zur Selbstverwirklichung.’ Ein Gespräch […] mit Ulrich Khuon und den Sozialwissenschaftlern Doris Eikhof und Axel Haunschild“, in: Theater heute, März 2004, S. 12.
6 Jens Neundorff von Enzberg im Gespräch mit Michael Helbing: „Intendant für Eisenach & Meinungen: ‚Ich bin der falsche Feind’“, in: Thüringer Allgemeine, 28.11.2020, online: https://www.thueringer-allgemeine.de/kultur/intendant-fuer-eisenach-meiningen-ich-bin-der-falsche-feind-id231022298.html [Inzwischen ist der Artikel online nicht mehr frei verfügbar.]
7 Carl Hegemann: „Zurück zur Allmacht. Die schönste Zeit im Leben“, in ders.: Dramaturgie des Daseins, Everday live, Berlin 2021, S. 54f.


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Ableismus ist die Diskriminierung und das soziale Vorurteil gegenüber Menschen mit bestimmten körperlichen und geistigen Fähigkeiten und Bedürfnissen. In der Regel handelt es sich dabei um eine Abwertung der physischen und psychischen Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Person, die auf einer vermeintlichen biologischen (körperlichen und/oder geistigen) Norm dessen beruht, was ein nichtbehinderter, neurotypischer Mensch sein sollte. Ableismus kann sich mit anderen Formen der Unterdrückung wie Rassismus und Sexismus überschneiden.

Adultismus ist die im Alltag und im Recht anzutreffende Diskriminierung, die auf ungleichen Machtverhältnissen zwischen Erwachsenen einerseits und Kindern, Jugendlichen und jungen Menschen andererseits beruht.

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das seit 2006 in Kraft ist, ist das einheitliche zentrale Regelwerk in Deutschland zur Umsetzung von vier europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien. Erstmals wurde in Deutschland ein Gesetz geschaffen, das den Schutz vor Diskriminierung aufgrund von Rassifizierung, ethnischer Herkunft, Geschlechtsidentität, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung umfassend regelt.

Antisemitismus ist eine Weltanschauung, die auf Hass/Feindseligkeit gegenüber jüdischen Menschen als religiöser oder rassifizierter Gruppe, jüdischen Einrichtungen oder allem, was als jüdisch wahrgenommen wird, beruht oder diese diskriminiert. Antisemitismus kann im Laufe der Zeit und in unterschiedlichen Kulturen variieren und sich in verschiedenen historischen Momenten intensivieren.

Barrierefreiheit bezeichnet das Ausmaß, in dem ein Produkt, eine Dienstleistung oder eine Umgebung für möglichst viele Menschen zugänglich ist und von ihnen genutzt werden kann. Inklusive Barrierefreiheit bewertet daher die Bedürfnisse und Wünsche aller möglichen Menschen – einschließlich derjenigen, die neurodivergent sind oder unterschiedliche Fähigkeiten haben – und bezieht diese in Design und Funktion mit ein. Änderungen, die Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten die gleiche Chance und Teilnahme ermöglichen, werden oft als behindertengerechte Anpassungen bezeichnet.

Belästigung ist ein unerwünschtes und nicht einvernehmliches Verhalten, das die Würde einer anderen Person verletzt. Belästigung kann oft ein einschüchterndes, feindseliges, demütigendes oder kränkendes soziales Klima erzeugen und kann auf der sexuellen Orientierung, der Religion, der nationalen Herkunft, einer Behinderung, dem Alter, der Rassifizierung, dem Geschlecht usw. einer Person beruhen. Belästigungen können verschiedene Formen annehmen, darunter verbale, körperliche und/oder sexualisierte.

Das binäre Geschlecht ist die Einteilung der Geschlechter in zwei unterschiedliche und entgegengesetzte Kategorien: Mann/männlich und Frau/feminin. Dieses Glaubenssystem geht davon aus, dass das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht mit den traditionellen sozialen Konstruktionen von männlicher und weiblicher Identität, Ausdruck und Sexualität übereinstimmt. Eine Zuweisung außerhalb des binären Geschlechts wird in der Regel als Abweichung von der Norm betrachtet.

Das Konzept des biologischen Geschlechts bezieht sich auf den biologischen Status einer Person, welcher meist bei der Geburt zugewiesen wird – in der Regel aufgrund der äußeren Anatomie. Das biologische Geschlecht wird in der Regel als männlich, weiblich oder intersexuell kategorisiert.

Cis-Geschlechtlichkeit, oder einfach cis, bezieht sich auf Menschen, die sich mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Cis kommt von der lateinischen Vorsilbe, die „auf dieser Seite von“ bedeutet.

as Konzept nach Birgit Rommelspacher geht davon aus, dass es ein System von Hierarchien, Herrschaft und Macht gibt, indem die verschiedenen rassistischen, sexistischen, klassistischen und weiteren Herrschaftsformen sich ineinander verflechten. In dieser Verflechtung hat jeweils eine dominante Gruppe die Macht, welche gesellschaftlich immer wieder ausgehandelt wird. In einer bestehenden Gesellschaft erlangt die dominante Gruppe ihre Rolle dadurch, dass sie als zur Mehrheit der Bevölkerung gehörend wahrgenommen wird und in den gesellschaftlichen Institutionen eine bedeutende Präsenz hat.

Der gefängnisindustrielle Komplex (PIC) ist ein Begriff, der die komplexen und miteinander verknüpften Abhängigkeiten zwischen einer Regierung und den verschiedenen Unternehmen und Institutionen beschreibt, die von den Praktiken der Freiheitsentziehung profitieren (z. B. Gefängnisse, Haftanstalten, Abschiebeeinrichtungen und psychiatrische Kliniken). In Anlehnung an den Begriff „militärisch-industrieller Komplex” plädiert der PIC für eine umfassendere Analyse der Art und Weise, wie die Freiheitsberaubung in einer Gesellschaft eingesetzt wird, und nennt alle Interessengruppen, die finanzielle Gewinne über Strategien der Vermeidung der Inhaftierung von Menschen stellen.

Genderexpansiv ist ein Adjektiv, das eine Person mit einer flexibleren und fließenderen Geschlechtsidentität beschreiben kann, als mit der typischen binären Geschlechtszugehörigkeit assoziiert werden könnte.

Geschlecht wird oft als soziales Konstrukt von Normen, Verhaltensweisen und Rollen definiert, die sich von Gesellschaft zu Gesellschaft und im Laufe der Zeit verändern. Es wird oft als männlich, weiblich oder nicht-binär kategorisiert.

Die Geschlechtsangleichung ist ein Prozess, den eine Person durchlaufen kann, um sich selbst und/oder ihren Körper in Einklang mit ihrer Geschlechtsidentität zu bringen. Dieser Prozess ist weder ein einzelner Schritt noch hat er ein bestimmtes Ende. Vielmehr kann er eine, keine oder alle der folgenden Maßnahmen umfassen: Information der Familie und des sozialen Umfelds, Änderung des Namens und der Pronomen, Aktualisierung rechtlicher Dokumente, medizinische Maßnahmen wie Hormontherapie oder chirurgische Eingriffe, die oft als geschlechtsangleichende Operation bezeichnet werden.

Der Ausdruck des Geschlechts ist die Art und Weise, wie eine Person ihr Geschlecht nach außen hin verkörpert, was in der Regel durch Kleidung, Stimme, Verhalten und andere wahrgenommene Merkmale signalisiert wird. Die Gesellschaft stuft diese Merkmale und Leistungen als männlich oder weiblich ein, obwohl das, was als männlich oder weiblich gilt, im Laufe der Zeit und zwischen den Kulturen variiert.

Geschlechtsdysphorie ist eine psychische Belastung, die sich aus der Inkongruenz zwischen dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht und der eigenen Geschlechtsidentität ergibt. Menschen aller Geschlechter können Dysphorie in unterschiedlicher Intensität oder auch überhaupt nicht erleben.

Die Geschlechtsidentität ist das innere Selbstverständnis einer Person in Bezug auf ihr Geschlecht. Im Gegensatz zum Geschlechtsausdruck ist die Geschlechtsidentität für andere nicht äußerlich sichtbar.

Heteronormativität ist das Konzept, dass Heterosexualität – romantische und/oder sexuelle Anziehung zwischen Menschen des „anderen“ Geschlechts –  die normative oder einzig akzeptierte sexuelle Orientierung in einer Gesellschaft ist. Heteronormativität geht vom binären Geschlechtsmodell aus und beinhaltet daher den Glauben an eine Übereinstimmung zwischen Sexualität, Geschlechtsidentität, Geschlechterrollen und biologischem Geschlecht. Als vorherrschende soziale Norm führt die Heteronormativität zu Diskriminierung und Unterdrückung derjenigen, die sich nicht als heterosexuell identifizieren.

Bei der Hormontherapie, auch geschlechtsangleichende Hormontherapie (GAHT) oder Hormonersatztherapie (HRT) genannt, werden Geschlechtshormone oder andere hormonelle Medikamente verabreicht. Diese Hormonveränderungen können körperliche Veränderungen auslösen, die als sekundäre Geschlechtsmerkmale bezeichnet werden und dazu beitragen können, den Körper besser auf die Geschlechtsidentität einer Person anzupassen.

Institutionelle Diskriminierung bezieht sich auf vorurteilsbehaftete organisatorische Maßnahmen und Praktiken innerhalb von Institutionen – wie Universitäten, Unternehmen usw. –, die dazu führen, dass eine marginalisierte Person oder Personengruppe ungleich behandelt wird und ungleiche Rechte hat.

Inter* oder Intergeschlechtlichkeit ist ein Oberbegriff, der Menschen beschreiben kann, die Unterschiede in der reproduktiven Anatomie, bei den Chromosomen oder den Hormonen aufweisen, die nicht den typischen Definitionen von männlich und weiblich entsprechen. Das Sternchen (*) unterstreicht die Vielfalt der intersexuellen Realitäten und Körperlichkeiten.

Intergenerationales Trauma bezieht sich auf das Trauma, das von einer traumaüberlebenden Person an deren Nachkommen weitergegeben wird. Aufgrund von gewalttätigen und lebensbedrohlichen Ereignissen wie Kriegen, ethnischen Säuberungen, politischen Konflikten, Umweltkatastrophen usw., die von früheren Generationen erlebt wurden, können die Nachkommen negative emotionale, körperliche und psychologische Auswirkungen erfahren. Da die ursprünglichen Ursachen von Traumata durch Formen der Diskriminierung wie Rassifizierung und Geschlecht bedingt sind, treten intergenerationale Traumata auch entlang intersektionaler Achsen der Unterdrückung auf. Schwarze Gemeinschaften haben zum Beispiel das intergenerationale Trauma der Versklavung ans Licht gebracht. Intergenerationales Trauma wird manchmal auch als historisches Trauma, multi- oder transgenerationales Trauma oder sekundäre Traumatisierung bezeichnet.

Intersektionalität benennt die Verflechtung von Unterdrückungssystemen und sozialen Kategorisierungen wie Rassifizierung, Geschlecht, Sexualität, Migrationsgeschichte und Klasse. Intersektionalität betont, dass die einzelnen Formen der Diskriminierung nicht unabhängig voneinander existieren und auch nicht unabhängig voneinander betrachtet und bekämpft werden können. Vielmehr sollten bei der Bekämpfung von Unterdrückung die kumulativen und miteinander verknüpften Achsen der verschiedenen Formen von Diskriminierung berücksichtigt werden.

Islamophobie ist eine Weltanschauung, die auf Hass/Feindseligkeit gegenüber muslimischen Menschen als religiöser oder rassifizierter Gruppe, muslimischen Einrichtungen oder allem, was als muslimisch wahrgenommen wird, beruht oder diese diskriminiert. Islamophobie kann im Laufe der Zeit und in unterschiedlichen Kulturen variieren und sich in verschiedenen historischen Momenten intensivieren.

Klassismus ist ein Begriff, der die Diskriminierung beschreibt, die auf der Überzeugung beruht, dass der soziale oder wirtschaftliche Status einer Person ihren Wert in der Gesellschaft bestimmt. Klassismus als eine Form der Diskriminierung und Stigmatisierung basiert auf tatsächlichen oder angenommenen finanziellen Mitteln, dem Bildungsstatus und der sozialen Integration. In der Hierarchie „unterlegene“ gesellschaftliche Klassen werden problematisiert und stereotypisiert und erhalten oft ungleichen Zugang und Rechte innerhalb der Gesellschaft.

Kolonialismus ist die Kontrolle und Dominanz einer herrschenden Macht über ein untergeordnetes Gebiet oder Volk. Bei der Unterwerfung eines anderen Volkes und Landes beinhaltet der Kolonialismus die gewaltsame Eroberung der Bevölkerung, die oft mit der Massenvertreibung von Menschen und der systematischen Ausbeutung von Ressourcen einhergeht. Abgesehen von den materiellen Folgen zwingt der Kolonialismus dem unterworfenen Volk auch die Sprache und die kulturellen Werte der herrschenden Macht auf, was kulturelle, psychologische und generationenübergreifende Traumata zur Folge hat.

Kulturalistisch argumentierter Rassismus richtet sich gegen Menschen aufgrund ihres mutmaßlichen kulturellen oder religiösen Hintergrunds. Diese Form der Diskriminierung kann unabhängig davon auftreten, ob sie tatsächlich eine Kultur oder Religion ausüben und wie religiös sie sind (z. B. antimuslimischer Rassismus und Antisemitismus).

Kulturelle Aneignung ist der Akt der Übernahme von Aspekten einer marginalisierten Kultur durch eine Person oder eine Institution, die dieser Kultur nicht angehört, ohne umfassendes Verständnis des Kontexts und oft ohne Respekt für die Bedeutung des Originals. Kulturelle Aneignung reproduziert Schaden, wenn sie negative kulturelle oder rassistische Stereotypen fördert. Kulturelle Aneignung kann oft die Machtdynamik innerhalb einer Gesellschaft offenbaren: So wird beispielsweise eine weiße Person, die die traditionelle Kleidung einer marginalisierten Kultur trägt, als modisch gelobt, während eine rassifizierte Person von der dominanten Gruppe isoliert und als fremd bezeichnet werden könnte.

Marginalisierung beschreibt jeglichen Prozess der Verdrängung von Minderheiten an den Rand der Gesellschaft. Marginalisierten Gruppen wird in der Regel unterstellt, dass sie nicht der normorientierten Mehrheit der Gesellschaft entsprechen und sind in ihren Möglichkeiten, sich frei zu verhalten, gleichen materiellen Zugang zu haben, öffentliche Sicherheit zu genießen usw., stark eingeschränkt.

Mikroaggression bezeichnet einzelne Kommentare oder Handlungen, die unbewusst oder bewusst Vorurteile und Diskriminierung gegenüber Mitgliedern von Randgruppen zum Ausdruck bringen. Als kleine, häufige und kumulative Vorkommnisse können Mikroaggressionen aus Beleidigungen, Stereotypen, Abwertung und/oder Ausgrenzung bestehen. Mikroaggressionen wirken sich oft negativ auf die Person aus, die sie erleidet, und beeinträchtigen ihre psychische und physische Gesundheit und ihr Wohlbefinden.

Misogynie ist ein Begriff für sexistische Unterdrückung und Verachtung von Frauen, der dazu dient, Frauen in einem niedrigeren sozialen Status als Männer zu halten und so patriarchalische soziale Rollen aufrechtzuerhalten. Misogynie kann eine Haltung von Einzelpersonen und ein weit verbreitetes kulturelles System bezeichnen, das häufig alles abwertet, was als weiblich wahrgenommen wird. Frauenfeindlichkeit kann sich mit anderen Formen der Unterdrückung und des Hasses überschneiden, z. B. mit Homophobie, Trans*-Misogynie und Rassismus.

Neurodiversität ist ein Begriff, der die einzigartige Funktionsweise der Gehirnstrukturen eines jeden Menschen beschreibt. Die Grundannahme, welche Art von Gehirnfunktion in einer normorientierten Mehrheitsgesellschaft gesund und akzeptabel ist, wird als neurotypisch bezeichnet.

Nonbinär ist ein Begriff, der von Personen genutzt werden kann, die sich selbst oder ihr Geschlecht nicht in die binären Kategorien von Mann oder Frau einordnen. Es gibt eine Reihe von Begriffen für diese Erfahrungen, wobei nonbinary und genderqueer häufig verwendet werden.

Das Patriarchat ist ein soziales System, in dem cis-geschlechtliche Männer sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich eine privilegierte Stellung einnehmen. In der feministischen Theorie kann der Begriff verwendet werden, um das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern zu beschreiben, das die männliche Dominanz begünstigt, sowie die Ideologie der männlichen Überlegenheit, die die Unterdrückung von Frauen und allen nicht-normativen Geschlechtern rechtfertigt und durchsetzt.

Pronomen oder persönliche Geschlechtspronomen (PGP) sind die Pronomen, die eine Person verwendet, um sich selbst zu bezeichnen, und die andere verwenden sollen, wenn sie sich auf sie beziehen. Die Liste der Pronomen entwickelt sich ständig weiter. Eine Person kann mehrere bevorzugte Pronomen haben oder auch gar keine. Die Absicht, die Pronomen einer Person zu erfragen und korrekt zu verwenden, besteht darin, die negativen gesellschaftlichen Auswirkungen für diejenigen zu verringern, deren persönliche Pronomen nicht mit der Geschlechtsidentität übereinstimmen, die von einer cis-normativen Gesellschaft angenommen wird. Die Verwendung geschlechtsneutraler Formulierungen und Begriffe sind ebenfalls inkludierende Schritte, die sich dem binären Geschlechtermodell und der Cis-Normativität widersetzen.

Rassismus ist der Prozess, durch den Systeme, politische Maßnahmen, Aktionen und Einstellungen ungleiche Chancen und Auswirkungen für Menschen aufgrund von Rassifizierung und rassistischen Zuschreibungen schaffen. Rassismus geht über individuelle oder institutionelle Vorurteile hinaus und tritt auf, wenn diese Diskriminierung mit der Macht einhergeht, die Rechte von Menschen und/oder Gruppen einzuschränken oder zu unterdrücken. Rassismus kann im Laufe der Zeit und in unterschiedlichen Kulturen variieren und sich in verschiedenen historischen Momenten intensivieren.

Sex-Gender-Differenz bezeichnet die Unterscheidung zwischen dem Konzept des „biologischen Geschlechts“ als biologischer Tatsache und dem Konzept des „sozialen Geschlechts“ als Produkt kultureller und sozialer Prozesse, wie z. B. sozial konstruierte Rollen, Verhaltensweisen, Ausdrucksformen und geschlechtsspezifische Identitäten.

Sexismus ist der Prozess, durch den Systeme, Politiken, Handlungen und Einstellungen ungleiche Chancen und Auswirkungen für Menschen auf der Grundlage ihres zugeschriebenen oder vermeintlichen Geschlechts schaffen und beschreibt die Ideologie, die diesen Phänomenen zugrunde liegt. Der Begriff wird meist verwendet, um die Machtverhältnisse zwischen dominanten und marginalisierten Geschlechtern in cisheteronormativen patriarchalen Gesellschaften zu benennen.

Sexuelle Orientierung ist der Begriff, der beschreibt, zu welchem Geschlecht sich eine Person emotional, körperlich, romantisch und/oder sexuell hingezogen fühlt.

Die soziale Herkunft beschreibt die soziokulturellen Werte und Normen, in die jemand hineingeboren wird, einschließlich Faktoren wie Umfeld, Klasse, Kaste, Bildungsbiografie und mehr. Die Werte, die mit der sozialen Herkunft einhergehen, sind konstruiert, haben aber oft materielle Auswirkungen, die bestimmte Gruppen und Menschen privilegieren oder benachteiligen. Wer beispielsweise in einem westlichen Land lebt, generationenübergreifenden Reichtum geerbt hat und über eine durchweg gute Ausbildung verfügt, hat als Erwachsener bessere Chancen auf einen gut bezahlten Arbeitsplatz. Die soziale Herkunft muss also berücksichtigt werden und nicht die inhärente Eignung für einen Job.

Eine soziale Norm ist ein gemeinsamer Glaube an den Standard für akzeptables Verhalten von Gruppen, der sowohl informell als auch in der Politik oder im Gesetz verankert ist. Soziale Normen unterscheiden sich im Laufe der Zeit und zwischen verschiedenen Kulturen und Gesellschaften.

Der sozioökonomische Status, der in der Regel als niedrig, mittel oder hoch eingeordnet wird, beschreibt Menschen auf der Grundlage ihrer Ausbildung, ihres Einkommens und der Art ihrer Tätigkeit. Die Werte und Normen, die den einzelnen sozioökonomischen Klassen zugeordnet werden, sind sozial konstruiert, haben aber materielle Auswirkungen.

Strukturelle Diskriminierung bezieht sich auf Verhaltensmuster, Strategien und Einstellungen, die auf der Makroebene der Gesellschaft zu finden sind. Diese Diskriminierung sozialer Gruppen beruht auf der Natur der Gesellschaftsstruktur als Ganzes. Strukturelle Diskriminierung unterscheidet sich von individuellen Formen der Diskriminierung (z. B. eine einzelne rassistische Bemerkung, die eine Mikroaggression darstellt), obwohl sie oft den kontextuellen Rahmen für das Verständnis der Gründe für diese individuellen Fälle liefert.

Tokenismus ist eine nur oberflächliche oder symbolische Geste, die Angehörige von Minderheiten einbindet, ohne die strukturelle Diskriminierung der Marginalisierung wesentlich zu verändern oder zu beseitigen. Der Tokenismus ist eine Strategie, die den Anschein von Inklusion erwecken und von Diskriminierungsvorwürfen ablenken soll, indem eine einzelne Person als Vertreter einer Minderheit eingesetzt wird.

Weiße Vorherrschaft bezeichnet die Überzeugungen und Praktiken, die Weiße als eine von Natur aus überlegene soziale Gruppe privilegieren, die auf dem Ausschluss und der Benachteiligung anderer rassifizierter und ethnischer Gruppen beruht. Sie kann sich auf die miteinander verknüpften sozialen, wirtschaftlichen und politischen Systeme beziehen, die es Weißen ermöglichen, sowohl auf kollektiver als auch auf individueller Ebene strukturelle Vorteile gegenüber rassifizierten Gruppen zu genießen. Der Begriff kann sich auch auf die zugrundeliegende politische Ideologie beziehen, die vielfältige Formen der Vorherrschaft von Weißen und nicht-weißen Anhängern erzwingt und aufrechterhält, von der Rechtfertigung des europäischen Kolonialismus bis hin zu den heutigen Neofaschismen.

Weißsein ist ein gesellschaftlich und politisch konstruiertes Verhalten, das eine Ideologie, Kultur, Geschichte und Wirtschaft aufrechterhält, die zu einer ungleichen Verteilung von Macht und Privilegien zugunsten derjenigen führt, die gesellschaftlich als weiß gelten. Die materiellen Vorteile des Weißseins werden auf Kosten Schwarzer, indigener und Menschen of Color erzielt, denen systematisch der gleiche Zugang zu diesen materiellen Vorteilen verwehrt wird. Auf diesem Blog wird weiß oftmals kursiv geschrieben, um es als politische Kategorie zu kennzeichnen und die Privilegien des Weißseins zu betonen, die oft nicht als solche benannt, sondern als unsichtbare Norm vorausgesetzt werden.

Xenophobie bezeichnet die Feindseligkeit gegenüber Gruppen oder Personen, die aufgrund ihrer Kultur als „fremd“ wahrgenommen werden. Fremdenfeindliche Haltungen sind oft mit einer feindseligen Aufnahme von Einwanderern oder Flüchtlingen verbunden, die in Gesellschaften und Gemeinschaften ankommen, die nicht ihre Heimat sind. Fremdenfeindliche Diskriminierung kann zu Hindernissen beim gleichberechtigten Zugang zu sozioökonomischen Chancen sowie zu ethnischen, rassistischen oder religiösen Vorurteilen führen.

Abolition ist ein Begriff, der das offizielle Ende eines Systems, einer Praxis oder einer Institution bezeichnet. Der Begriff hat seine Wurzeln in den Bewegungen zur Abschaffung der Sklaverei im 19. Jahrhundert und wird heute oft verwendet, um die Praxis der Polizei und des Militärs und/oder die miteinander verbundenen Gefängnisse, Geflüchtetenlager, Haftanstalten usw. zu beenden. Weitere Informationen finden Sie in der Definition des gefängnisindustrielle Komplexes).

Accountability oder auch Rechenschaftspflicht ist die Verpflichtung und die Bereitschaft, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Im Zusammenhang mit sozialer Gerechtigkeit bezieht sich die Rechenschaftspflicht auf die Art und Weise, in der Einzelpersonen und Gemeinschaften sich selbst an ihre Grundsätze und Ziele halten und die Gruppen anerkennen, denen gegenüber sie verantwortlich sind. Rechenschaftspflicht erfordert oft einen transparenten Prozess und ein kontinuierliches Selbst- und Kollektivbewusstsein.

Ageism, auch Altersdiskriminierung genannt, ist eine Diskriminierung oder ein Vorurteil aufgrund des Alters einer Person, z. B. wenn Fähigkeiten und Fertigkeiten aufgrund des höheren oder niedrigeren Alters einer Person in Frage gestellt und bewertet werden.

Agender ist ein Adjektiv, das von Personen genutzt werden kann, die sich mit keinem bestimmten Geschlecht identifizieren.

BIPoC steht für Black, Indigenous und People of Color. Dieser aus den USA stammende Begriff ist eine Selbstbezeichnung, die darauf abzielt, Menschen und Gruppen zu vereinen, die von Rassismus betroffen sind. Die Selbstbezeichnung rückt die spezifischen Erfahrungen Schwarzer, indigener und anders rassifizierter Gruppen in den Mittelpunkt, welche stark von systematischer rassistischer Ungleichbehandlung, deren Wurzeln in der Geschichte der Versklavung und des Kolonialismus liegen, betroffen sind.

Colorism ist ein Begriff, der die Vorurteile oder Diskriminierung beschreibt, welche rassifizierte Menschen mit hellerer Hautfarbe bevorzugt, während solche mit dunklerer Hautfarbe benachteiligt werden. Er wird vor allem verwendet, um die nuancierte Diskriminierung innerhalb einer rassifizierten oder ethnischen Gruppe zu beschreiben.

Die Critical Diversity Policy der UdK ist ein Dokument, welches die Vorstellung hervorheben und durchsetzen soll, dass Unterschiede in Werten, Einstellungen, kulturellen Perspektiven, Überzeugungen, ethnischen Hintergründen, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, Fähigkeiten, Wissen und Lebenserfahrungen jeder*jedes Einzelnen in jeder Gruppe von Menschen innerhalb der Universität berücksichtigt und überwunden werden sollten.

Deadnaming ist der Akt, für eine trans*, nicht-binäre oder genderexpansive Person mit ihren Geburtsnamen oder einen falschen Namen zu nutzen, wenn diese ihren Namen als Teil ihres Geschlechtsausdrucks geändert hat. Es ist niemals in Ordnung oder notwendig, den Deadname einer Person zu verwenden, wenn sie ihren Namen geändert hat, auch nicht bei der Beschreibung von Ereignissen in der Vergangenheit. Wenn Du eine Person mit ihrem Deadname anredest, übernimm Verantwortung, indem Du dich entschuldigst und verpflichtest, dies in Zukunft nicht mehr zu tun. Erkundige Dich nach dem aktuellen Namen der Person und bemüh Dich, ihn konsequent zu verwenden.

Dieser soziologische Begriff konzentriert sich auf die Art und Weise, wie Menschen Geschlecht wahrnehmen, (re-)produzieren und im täglichen Leben als relevant erachten. Im Gegensatz zur Annahme, dass Geschlecht eine angeborene Eigenschaft ist, unterstreicht das Konzept des “doing gender”, dass Geschlecht ein soziales Konstrukt ist, das die tägliche menschliche Interaktion prägt.

Misogynoir ist ein von der Schwarzen Feministin Moya Bailey 2010 geprägter Begriff, der die geschlechtsspezifische und rassistische Unterdrückung beschreibt, mit der Schwarze Cis- und Transgender-Frauen konfrontiert sind (letztere wird manchmal auch durch den Begriff Trans*-Misogynoir charakterisiert). Ausgehend von einer intersektionalen Sichtweise untersucht das Konzept, wie sich anti-Schwarzer Rassismus und Frauenfeindlichkeit zu einer besonderen Form der Unterdrückung und Diskriminierung verbinden.

Queer ist ein Oberbegriff für Menschen, die nicht heterosexuell oder cisgender sind. Er wird für ein breites Spektrum an nicht-normativen sexuellen und/oder geschlechtlichen Identitäten und Politiken verwendet.

Safer Spaces sollen Orte sein, an denen marginalisierte Gemeinschaften zusammenkommen und gemeinsame Erfahrungen austauschen können, frei von Voreingenommenheit, Konflikten oder Verletzungen, die von Mitgliedern einer dominanten Gruppe verursacht werden. In Anerkennung der Tatsache, dass es unter den gegenwärtigen Systemen unserer Gesellschaft keinen vollkommen sicheren Raum für marginalisierte Menschen gibt, verweist der Begriff „safer“ auf das Ziel einer vorübergehenden Entlastung sowie auf die Anerkennung der Tatsache, dass Verletzungen auch innerhalb marginalisierter Gemeinschaften reproduziert werden können. Beispiele für sichere Räume, die in Organisationen und Institutionen geschaffen wurden, sind Queer-only Räume und/oder Räume nur für Schwarze, Indigene und People of Color.

Social Justice ist eine Form des Aktivismus und eine politische Bewegung, die den Prozess der Umwandlung der Gesellschaft von einem ungerechten und ungleichen Zustand in einen gerechten und gleichberechtigten Zustand fördert. Social Justice beruht auf der Auffassung, dass jeder Mensch die gleichen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rechte und Chancen verdient und das Grundrecht hat, sich psychisch und physisch sicher zu fühlen. Social Justice zielt daher darauf ab, geltende Gesetze und gesellschaftliche Normen zu ändern, die in der Vergangenheit und in der Gegenwart bestimmte Gruppen gegenüber anderen unterdrückt haben. Soziale Gerechtigkeit ist nicht nur die Abwesenheit von Diskriminierung, sondern auch das Vorhandensein bewusster Systeme und Unterstützungen, die Gleichheit entlang der Grenzen von Rassifizierung, Geschlecht, Klasse, Fähigkeiten, Religion usw. erreichen und erhalten.

Transgender, oder einfach trans*, ist ein Adjektiv, das sich auf Menschen bezieht, deren Geschlechtsidentität sich von dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht unterscheidet. Trans kommt von der lateinischen Vorsilbe, die „hindurch“ oder „darüber hinaus“ bedeutet. Die Selbstbezeichnung gibt als Identitätsmerkmal nicht automatisch an, ob sich diese Person mit einem anderen Geschlecht, keinem Geschlecht oder mehreren Geschlechtern identifiziert. Es gibt also mehrere Trans*-Identitäten. Das Sternchen (*) unterstreicht die Pluralität und Fluidität von Trans-Identitäten.