Was Antidiskriminierungsarbeit angeht, gibt es kurzfristige und langfristige Ziele.
Es gibt bestimmte Meilensteine, die uns langfristigeren Zielen näherbringen können, wie eine Frauenquote oder das Bevorzugen von BIPoC in Stellenausschreibungen. Wobei man hier als BIPoC mit hoher Wahrscheinlichkeit der Token vom Dienst ist – wenn man überhaupt für eine Stelle ausgewählt wird. Kurzfristige Ziele und die Veränderungen, die damit bewirkt werden, haben dann oft einen symbolischen Charakter und können so schnell wieder verschwinden, wie sie implementiert wurden. Als Beispiel kann die Rolling Stone-Zeitschrift gelten, die sich last-minute entschieden hat, doch lieber nicht zwei erfolgreiche, zeitgemäße und empowerte Musikerinnen of Color auf ihrem Cover für August 2020 zu zeigen, sondern die hundertste Version des weißen cis-männlich-heterosexuellen Musikers Bruce Springsteen aus den 70ern. Das Coverfoto mit Joy Denalane und Ilgen-Nur wäre nicht kraftvoll genug gewesen, war die Begründung. (1)
Symbole sind nicht verwerflich oder unwichtig, aber wirkliche Veränderungen veranlassen sie nur selten. Langfristige Ziele sind sehr viel komplexer, es geht hier eigentlich darum, das rassistische, sexistische, ableistische, homophobe und trans*feindliche System in dem wir leben erst einmal zu benennen, dessen Hintergründe wie Kolonialisierung, Kapitalismus und Neoliberalismus zu erkennen, um dann zu versuchen, es zu dekonstruieren. Das klingt zunächst so abstrakt, dass es schwierig ist einzuordnen, ob dieses Ziel eine Utopie oder doch eher eine Dystopie sein soll. Die dystopische Vorstellung, dass der Prozess zu komplex ist, um die Ziele jemals erreichen zu können, und die vorherrschenden Strukturen so fest in uns selbst verankert sind, dass es unmöglich scheint sie zu benennen, ist, milde ausgedrückt, demotivierend.
Wenn man aber versucht, den Radius klein zu halten und sich im eigenen Umfeld umzuschauen, zum Beispiel, in der Institution, dem Studio, der Agentur, der Galerie, dem Magazin, in dem man arbeitet, dann wird deutlich, wie homogen diese Räume sind. Sie sind vor allem eins: weiß. Und weiß ist nicht nur eine Hautfarbe, sondern bringt Vorurteile, Entitlement und Überlegenheitsgefühle mit sich. Weißsein ist ein Privileg. Sich in solchen Räumen – wenn man denn überhaupt als BIPoC Zutritt findet – für Antidiskriminierung einzusetzen, bedeutet, gegen Strukturen zu kämpfen, von denen man selbst Teil ist.
Als betroffene Person wird man oft dazu angehalten, ganz objektiv die Existenz von beispielweise Rassismus zu beweisen. Allerdings gibt es keine objektive Sicht auf Diskriminierung. Natürlich gibt es harte Fakten, Daten und die Geschichte, die Diskriminierung festschreiben, aber das sind nicht die Inhalte, für die sich nicht-betroffene Personen interessieren. Viel mehr interessieren sie sich für die extrem persönlichen Erfahrungen der betroffenen Personen, die man exotisieren und deren Faktizität man gleichzeitig in Frage stellen kann.
Der Debatte um Rassismus wird oft Emotionalität vorgeworfen, meistens von weißen cis-hetero Männern, die absolut liberal sind, ABER…
Rassismus ist nicht unemotional und wird es auch nie sein können. Und das nicht, weil betroffene Personen ihren Schmerz nicht kontrollieren und sich nicht in ruhigem Ton ausdrücken können, sondern weil Rassismus auf Hass, Angst und Wut basiert. Jemanden auf Grund von persönlichen Merkmalen zu diskriminieren, ist nicht objektiv oder unemotional. Demnach kann es auch keine unemotionale Reaktion hervorrufen. Der Versuch, betroffenen Personen ihre Emotionalität abzusprechen, und der Vorwurf von Unsachlichkeit ist eine Dominanzgeste und ein weiterer Beweis für das Machtgefälle unseres Systems. Rassismuserfahrungen können nicht objektiv wahrgenommen werden, und dennoch schmälert das ihre Existenz nicht.
Rassismus ist emotionsgeladen, systematisch, strukturell und berechnend zugleich.
Gerade weil Rassismus nicht objektiv, sondern emotional ist, ist Antirassismus das ebenfalls. Nicht nur die Rassismuserfahrungen von BIPoC sind emotional und traumatisierend, sondern auch der Kampf gegen den Rassismus ist emotional und kann (re-)traumatisierend für die betroffenen Personen werden. Die Auseinandersetzung mit sich selbst ist die Voraussetzung für das Verstehen und Durchblicken von rassistischen Strukturen, und die Rolle, die man selbst in diesen Strukturen einnimmt, ist subjektiv. Und meistens unangenehm. Auch wenn seit spätestens diesem Jahr auch für nicht-betroffene Personen klar sein sollte, dass Rassismus ein weißes Problem ist, bleibt die Verantwortung, Diskriminierung zu bekämpfen, an denjenigen hängen, die davon betroffen sind. Frauen*1 müssen Männer über Sexismus aufklären, BIPOC müssen weißen Personen erklären, warum und wie Rassismus bekämpft werden muss, und trans* und nicht-binäre Personen werden dazu genötigt, anhand ihrer eigenen Identität das binäre Geschlechtersystem in Frage zu stellen.
Betritt man also als betroffene, marginalisierte Person einen Raum, in dem sich gegen Diskriminierung eingesetzt wird, trifft man vor allem auf ebenfalls betroffene Personen. Diese Personen sind meistens unterschiedlich situiert und von verschiedenen Diskriminierungsformen betroffen, sodass sie keine homogene Gruppe bilden.
In so einem diversen Raum zu arbeiten, bringt ganz eigene Herausforderungen mit sich, denen ja oft in homogenen Arbeitskontexten aus dem Weg gegangen wird. In einem diversen Raum zu arbeiten, ist anstrengend und zäh, weil unterschiedliche Meinungen, Haltungen, Überzeugungen und Einstellungen aufeinandertreffen. Das kann in Räumen der Antidiskriminierungsarbeit besonders frustrierend sein, da man oft unter betroffenen Personen die gleichen Ziele verfolgt, allerdings nicht immer die gleiche Herangehensweise teilt und deshalb viel mehr und vorsichtiger kommunizieren muss, als es in homogenen Räumen nötig wäre. Erst durch das Verlangsamen des Prozesses und offene, gewaltfreie Kommunikation, kann verhindert werden, dass Personen (re-)traumatisiert werden.
Aus genau diesem Grund müssen wir unseren Fokus von hauptsächlich zielorientierter Antidiskriminierungsarbeit auf vor allem prozessorientierte Arbeit ausweiten.
Erreichte Ziele der Antidiskriminierung bekommen schnell einen bitteren Beigeschmack, wenn auf dem Weg dorthin diskriminierende Strukturen reproduziert wurden. Das kann dadurch passieren, dass beispielsweise Personen in ihren Meinungen und Erfahrungen übergangen werden, Barrierefreiheit nicht mitgedacht wird, Redeanteile ungleichmäßig verteilt werden und manipulativer Kommunikation, wie zum Beispiel Gaslighting und Silencing, Raum gegeben wird. Es stellt sich die Frage, ob so wirklich langfristige Fortschritte gemacht werden können.
Es liegt natürlich nahe, dass innerhalb eines diskriminierenden Systems auch von marginalisierten Personen, oft unbewusst, diese Strukturen reproduziert werden. Durch eine intersektionale Perspektive kann erklärt werden, wie und warum auch betroffene Personen Teil dieser Reproduktion sein können. Unterschiedliche Formen der Diskriminierung werden auch unterschiedlich erfahren, gleichzeitig gibt es von Mehrfachdiskriminierung betroffene Personen, bei denen die Kombination von Diskriminierungen ganz eigene Erfahrungswerte erzeugt. Allerdings schließt die Tatsache, selbst von Diskriminierung betroffen zu sein, nicht aus, dass man selbst diskriminierend agieren kann. Zum Beispiel kann eine weiße Frau über Sexismus aufgeklärt sein und sich als Feministin bezeichnen und trotzdem rassistische Strukturen reproduzieren, indem die Erfahrungen Schwarzer Frauen nicht berücksichtigt oder unsichtbar gemacht werden. Ein Schwarzer Mann wird aufgrund seiner Hautfarbe diskriminiert und durch den Rassismus unserer Gesellschaft marginalisiert und kann gleichzeitig selbst sexistisches Verhalten reproduzieren. Es ist jedoch nicht nur so, dass marginalisierte Personen nur Diskriminierungen, von denen sie nicht betroffen sind, reproduzieren können, sondern auch Diskriminierungen, von denen sie selbst betroffen sind, internalisieren können. Dadurch entsteht zum Beispiel so etwas wie internalisierter Rassismus, der eine Form der systematischen Unterdrückung darstellt.
„Da Race ein soziales und politisches Konstrukt ist, das aus bestimmten Geschichten der Herrschaft und Ausbeutung zwischen Völkern hervorgeht, führt der internalisierte Rassismus der Schwarzen oft zu großen Konflikten zwischen und unter ihnen, da andere Machtkonzepte – wie Ethnizität, Kultur, Nationalität und Klasse – in Missverständnissen zusammenbrechen. Besonders wenn Race mit Nationalität und Ethnizität verwechselt wird, manifestiert sich internalisierter Rassismus oft darin, dass verschiedene kulturelle und ethnische Gruppen, wegen der knappen Ressourcen, gegeneinander ausgespielt werden und dass der Rassismus für Menschen übrig gelassen wird, die keine weißen Privilegien haben. Dadurch kann eine Hierarchie entstehen, die auf der Nähe zur weißen Norm beruht. Gleichzeitig lähmt es uns alle in unserem Versuch, eine Gesellschaft zu schaffen, die für uns alle funktioniert.“ (2)
Wenn wir also Antidiskriminierungsarbeit innerhalb von Institutionen leisten wollen, dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, mit wem wir in einem Raum sitzen. Wie wir miteinander kommunizieren. Wer wie viel Redeanteil hat. Wer in diesen Räumen Platz findet. Wer sich wohlfühlt. Wie die Aufgaben untereinander verteilt werden.
Die Ziele, die wir als betroffene Personen mit Antidiskriminierungsarbeit erreichen wollen, sind hinfällig, wenn auf dem Weg Personen gesilenced, übergangen werden oder auch Arbeit unsichtbar gemacht wird. Bei Antidiskriminierungsarbeit sollte es darum gehen, vor allem neue Prozesse der Zusammenarbeit zu entwickeln, die den Prozessen, in weißen cis-männlich-heterosexuellen Räumen etabliert sind, entgegenstehen.
Es ist hierbei wichtig anzuerkennen, dass gute Intentionen nicht ausreichen. Auch wenn antidiskriminatorische Ziele verfolgt werden, zählt doch der Weg, der gegangen wird, um diese Ziele zu erreichen, am meisten. Gute Absichten reichen nicht aus, um Strukturen zu dekonstruieren. Die Art und Weise der Kommunikation ist ausschlaggebend, um neue Arten von Räumen zu etablieren.
Langfristig geht es bei Antidiskriminierungsarbeit um die Dekonstruktion von Systemen und den Aufbau von neuen Strukturen. Wir müssen also unser eigenes Verhalten mit jeder Entscheidung innerhalb dieser diversen Räume reflektieren und können uns nicht auf unsere Intentionen oder unseren Grad der Betroffenheit verlassen.
Es geht nicht nur um das Was, sondern vor allem um das Wie.
1. NIGGEMEIER, STEFAN: WIE ES EINMAL FAST ZWEI FRAUEN AUFS COVER DES „ROLLING STONE“ SCHAFFTEN (02.08.2020). HTTPS://UEBERMEDIEN.DE/51820/WIE-ES-EINMAL-FAST-ZWEI-FRAUEN-AUFS-COVER-DES-ROLLING-STONE-SCHAFFTEN/ . [03.09.2020]
2. HOEDER, CIANI SOPHIA: WAS BEDEUTED INTERNALISIERTER RASSISMUS? HTTPS://ROSA-MAG.DE/ROSAPEDIA-WAS-BEDEUTET-INTERNALISIERTER-RASSISMUS/ . [03.09.2020]
1 Anm. d. Redaktion: Sprache befindet sich im ständigen Wandel. Die Schreibweisen Frauen* und weiblich* galten zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes als inklusiv für Menschen, die durch Sexismus strukturell benachteiligt werden. Mittlerweile werden diese Bezeichnungen aufgrund ihrer Ungenauigkeit und Reproduktion sexistischer Stereotypen im Antidiskriminierungskontext nicht mehr verwendet. Stattdessen werden Begriffe benutzt, die genauer beschreiben, wer jeweils gemeint ist – z. B. „FLINTA*“. In jüngeren Blog-Texten und Interviews wurde auf die Schreibweise Frauen* und weiblich* deshalb verzichtet.